Kategorie: Filmbesprechung
"Der Fall der Dynastie Romanow"
Падение династии Романовых
Esfir Shub hat einen bahnbrechenden Kompilationsfilm über die Russische Revolution von 1917 realisiert.
Unterrichtsfächer
Thema
Die sowjetische Avantgarde der 1920er-Jahre wird meist mit Regisseuren wie Sergej M. Eisenstein oder Dziga Vertov in Verbindung gebracht. Wenig bekannt ist dagegen die Pionierin des Zum Inhalt: Dokumentarfilms Esfir I. Shub, die an der Erforschung der filmischen Zum Inhalt: Montage, für die diese Epoche berühmt ist, maßgeblichen Anteil hatte. Shub, die zunächst als Filmeditorin für die staatliche Produktionsfirma Goskino Umschnitte ausländischer Spielfilme erstellte, entwickelte mit ihrem Debütfilm über das Ende der Zarenherrschaft in Russland "Der Fall der Dynastie Romanow" (1927) den ersten Zum externen Inhalt: Kompilationsfilm (öffnet im neuen Tab), der ausschließlich aus Archivmaterialien montiert wurde. Der Montagearbeit ging eine intensive Recherchearbeit voraus. Shub stöberte verschollen geglaubtes Material von Wochenschauen, Amateurfilmen und offizieller Hofberichterstattung auf. Am Schneidetisch montierte sie Ausschnitte aus dem gefundenen Material, sodass allein durch den Schnitt und sparsam kommentierende Zwischentitel (Glossar: Zum Inhalt: Insert) die historische Entwicklung vor Augen geführt und gedeutet wird. Shub kann damit als eine der ersten Historiker/-innen gelten, die den Film als Quelle und Medium der Geschichtsschreibung eingesetzt hat.
Der anlässlich des zehnten Jahrestags der Oktoberrevolution von 1917 in Auftrag gegebene Film ist chronologisch aufgebaut. Zunächst werden die Lebensverhältnisse und das russische Herrschaftssystem vor dem Ersten Weltkrieg vorgestellt. Damals noch unübliche Zum externen Inhalt: Kontrastmontagen (öffnet im neuen Tab) vergleichen die prächtigen Anwesen, Paraden und Freizeitvergnügen der Oberschichten mit den ärmlichen Dörfern und der harten Arbeit der Bevölkerung. Der umfangreichste Teil des Films widmet sich anschließend dem Krieg. Zum externen Inhalt: Alternierende Montagen (öffnet im neuen Tab) zwischen Herrschern, Militärparaden, Kriegsschiffen und Zügen verschiedener Länder suggerieren ein sich gegenseitiges Hochschaukeln der Großmächte, das sein emotional eindrücklichstes Bild in den schäumenden Wellen der von Kriegsschiffen durchkämmten See findet. "The Nations are set in motion" – kommentiert ein Zwischentitel die dramatische Konfrontation, die buchstäblich im Zum Inhalt: Schuss-Gegenschuss gipfelt: Bilder von Waffen abfeuernden Soldaten wechseln mit Aufnahmen von Explosionen. Tote, Verwundete und Verwüstungen werden kontrastiert mit dem Zaren, der an seinem Schreibtisch die Mobilisierung anordnet. Als "logische" Konsequenz folgt schließlich die Oktoberrevolution. Nun betont die Montage die Einheit einer Bewegung: Menschenmengen, die sich auf ein Ziel zubewegen, Banner und Flugblätter in den Händen, Redner, die zu ihnen sprechen. Zu sehen sind die zerstörten Symbole der Macht, die neuen Abgeordneten der Duma, die erst noch mit den Kriegstreibern paktieren, bevor sie von den Bolschewiki abgesetzt werden, aber auch Prozessionen mit Särgen der Opfer der Revolution. Die letzte Aufnahme zeigt Lenin, der sich von einem Fahrzeug herabbeugt, um einem Zivilisten die Hand zu schütteln.
Allein durch die Montage deutet Shub das historische Geschehen und schreibt dem Material, den, wie sie selbst es bezeichnet, "Blickwinkel der revolutionären Klasse" ein. Sie gehört damit zur damaligen Kunstavantgarde, die sich für die Revolution begeisterte und zum Aufbau einer neuen Gesellschaft beitragen wollte. Zugleich widersetzt sich "Der Fall der Dynastie Romanow" auch der Logik eines Propagandafilms: Gerade weil Shub auch Amateurfilme einbezieht, nicht nur historisch Relevantes zeigt und die offiziellen Repräsentationen der Macht gegen den Strich liest, entsteht ein vielgestaltiges Bild gesellschaftlicher Wirklichkeit. Die nicht nur sozial, sondern auch in der Geschichtsschreibung Unterprivilegierten erhalten ein Gesicht. Das gilt vor allem für Frauen, die als Bäuerinnen oder Arbeiterinnen, als diejenigen, die in Kriegszeiten die Männer an den Maschinen ersetzen, und sich in Revolutionszeiten als politische Aktivistinnen engagieren, zu sehen sind.
Literatur: Martin Stollerey: Eisenstein, Shub and the Gender of the Author as Producer. In: Film History, 2002, Vol. 14, No. 1, Film/Music (2002), S. 87-99.