"Wir alle spielen Theater", sobald wir aus der Tür in die Öffentlichkeit treten. Im Büro, an der Bushaltestelle, im Restaurant – alles Beispiele für soziale Situationen, in denen wir eine bestimmte Rolle erfüllen und Regeln beachten müssen. Falls nicht, könnten diese Situationen schnell ins Chaos kippen. Der kanadische Soziologe Erving Goffman, von dem das Bild des Theaterspielens stammt, nennt unsere Auseinandersetzung mit solchen Regeln des Alltags Rahmenanalyse. Dass Schüler/-innen im Klassenzimmer auf die Lehrkraft hören, ist der gewünschte Rahmen. Hüpfen stattdessen zwei Dutzend Kinder auf den Tischen herum statt die Klassenarbeit zu schreiben, erfüllt die Schulstunde nicht mehr ihren Zweck.

Animierte Filzfiguren treffen auf den Stil von Roy Andersson

In zwölf szenischen Miniaturen durchbrechen die Figuren in Anna Mantzaris‘ Zum Inhalt: Kurzfilm "Enough" genau diese sozialen Rahmungen: Sie schmeißen den Computerbildschirm aus dem Fenster, werfen sich aus dem fahrenden Auto, drücken ihren Gästen den Spaghettiteller ins Gesicht. Die liebevoll gestalteten Filzmenschen geben ihren Gefühlen und Impulsen nach, ohne sich den Konsequenzen zu stellen. Sie sprengen aber nicht nur Rahmen, sondern gehen auch sinnlichen Verlockungen nach. In kindlicher Naivität liefern ihre Handlungen Antworten auf die Fragen: Ist der dichte Vollbart meines Gegenübers eigentlich brennbar? Oder: Wie fühlt sich die tiefrot leuchtende Herdplatte an, wenn ich meine Hand darauf lege?

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Die gefilzte Wolle, aus der die Figuren bestehen (Glossar: Zum Inhalt: Animationstechniken), erweist sich ebenfalls als widerspenstiges Element. Zwischen jedem Einzelbild bewegen sich kleine Härchen auf den Körpern oder den Köpfen der Puppen. Sie wabern in den Einstellungen, die Falten ihrer Kleidung verselbstständigen sich, statt sich einer glatten Animation (Glossar: Zum Inhalt: Animationsfilm) zu fügen. Damit untermauert schon das Material den absurden Witz, der aus jeder Episode (Glossar: Zum Inhalt: Episodenfilm) des zweiminütigen Films hervorscheint. Die Handlungen der einförmigen Hemd- und Blusenträger/-innen wirken in ihrer Welt maximal deplatziert – und trotzdem nachvollziehbar. Ihr Übriges tut dabei das Setting (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set) einer namenlosen grauen Stadt. Jene minimalistisch gestalteten Innenräume sowie die Häuserfassaden in verblassten Pastelltönen (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung) sind von der filmischen Welt des schwedischen Regisseurs Roy Andersson inspiriert, wie Mantzaris in Interviews betont.

Widerstandsgesten, die den Goffman'schen Rahmen sprengen

Ähnlich den Figuren in "Enough" verzweifeln Anderssons Protagonistinnen und Protagonisten auf ebenso humorvolle Weise an der profanen Alltäglichkeit ihrer Welt. Zwischen der ultima ratio des Selbstmordes und einem Einkauf im Supermarkt liegt bei ihm eine kaum merkliche Grenze. Doch der Drastik in Anderssons Filmen wie Zum Filmarchiv: "Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach" (En duva satt på en gren och funderade på tillvaron, Roy Andersson, SE/NO/FR/DE 2014) stellt seine Landsfrau Mantzaris einen Moment der Kontemplation entgegen. Die rundliche Frau im Bus hält noch einmal inne, die Filzhand zum Schlag erhoben, bevor sie dem Störer das Handy umso energischer vom Ohr haut.

Dieses Innehalten kann aber auch in Zärtlichkeit und Solidarität umschlagen. So kuschelt sich ein Mann in der Schlange vor dem Bankautomaten – alle Goffman’schen Rahmen sprengend – an das lange Haar seines tätowierten Vordermanns. Und wenn am Ende eine Frau aus Ärger über den verpassten Bus ihre Einkäufe fallen lässt und sich auf den blanken Asphalt legt, scheint das Phänomen um sich zu greifen: In solidarischer Geste gegen die Mühseligkeit des Alltags legt sich ein Fremder in Hemd und Krawatte wie selbstverständlich daneben.

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