Kategorie: Hintergrund
Der erste Kuss, das erste Mal
Die Darstellung von Intimität in aktuellen Jugendfilmen
Liebe und Sexualität von Teenagern – ein komplexes Thema, das viele Filme und Serien heute sensibel und facettenreich behandeln.
Die derben sexualisierten Witze aus Filmen wie "American Pie" (USA 1999, Paul Weitz) waren um die Jahrtausendwende ein verstohlener Blick in eine andere, möglicherweise verbotene und Jugendlichen nicht leicht zugängliche Welt. Inzwischen hat sich das verändert. Die Scherze wirken harmlos gegenüber dem, was mit wenigen Klicks online abrufbar ist: Die Welt der Pornografie befindet sich nicht mehr hinter verschlossenen Türen, sondern steht, ganz gleich ob legal oder illegal, in all ihren Ausformungen weit offen – für fast alle. Zum Inhalt: Spielfilme und Serien, die sich (auch) an Jugendliche richten, taugen daher heute kaum als provokante Tabubrecher oder als Anschauungsmaterial. Andererseits haben Jugendfilme und -serien nie aufgehört, über Sex zu erzählen, oder gar darauf verzichtet, Sex zu zeigen. Im Gegenteil: Es gibt eine neue Offenheit, wie über Sexualität und Intimität erzählt wird. Nicht als anrüchiger Witz, nicht voyeuristisch, nicht selbstzweckhaft. Sondern eher realistisch, divers, als normaler Teil des Lebens, mal schön, mal nicht schön oder gar traumatisierend.
Alles, was ihr schon immer über Sex wissen wolltet
Mustergültig verbindet die Serie "Sex Education" (GB 2019-23) nahezu alle Themen, die mit Coming-of-Age, Sexualität, sexueller Identität und Orientierung zu tun haben. Im Mittelpunkt steht der anfangs eher schüchterne Teenager Otis, der als Sohn einer Sexualtherapeutin tagtäglich zu Hause mit dem Thema Sexualität konfrontiert wird, dessen eigene Entwicklung aber damit nicht Schritt halten kann. Eher zufällig kommt ihm dann in seiner Schule die Rolle des Sexberaters zu, was ihn noch mehr unter Druck setzt.
Selbstbefriedigung, sexuelle Orientierungen, Fantasien, Spielarten, ungewollte Schwangerschaft – alles wird in dieser unverklemmten und humorvollen Serie durchdekliniert. Sie nimmt die Unsicherheit und Wünsche ihrer Protagonist/-innen ernst, zeigt Erfolge und Misserfolge, erzählt über Körperlichkeit und Liebe, über Ablehnung und Erfüllung. Skandalös ist hier nichts, dafür vieles erhellend. Keine andere Serie hat sexuelle Diversität bislang so zum Thema gemacht und war dabei so sexpositiv. Wohl gerade deshalb trifft sie bei einem jungen Publikum einen Nerv – und löst das aufklärerische Versprechen ihres sachlichen Titels perfekt ein. Sie bietet Orientierung, weil sie dem Publikum sagt: Du bist okay. Und die Fragen, die du dir – vielleicht auch nur heimlich – stellst, sind auch okay. Nicht zuletzt bietet die Serie Jugendlichen die Möglichkeit, sie selbstbestimmt in einem privaten Umfeld zu Hause allein oder mit Gleichaltrigen zu schauen, ohne sich dabei beobachtet fühlen zu müssen – was womöglich auch zum Erfolg der Serie "Bridgerton" (Chris Van Dusen, USA 2020-2023) beigetragen hat.
Liebe und Körperlichkeit
Während die visuelle Freizügigkeit in "Sex Education" kaum anstößig wirkt, geht die Serie "Normal People" (Lenny Abrahamson, Hettie Macdonald, IE 2020) nach dem gleichnamigen Roman von Sally Rooney mit der Darstellung von Intimität ganz anders um. Erzählt wird die mehrjährige Geschichte von Marianne und Connell, die sich als Schüler/-innen ineinander verlieben. Ihre Leidenschaft setzt die Serie dabei ins Bild, anstatt beschämt wegzuschauen. Die Sexszenen passen zu dieser großen Erzählung über das Wesen der Liebe und sind ein selbstverständlicher Teil davon. Gerade das markiert einen anderen Umgang mit Intimität, der auf Hollywood-typische Inszenierungsklischees verzichtet.
Leidenschaft wird auch in "Blau ist eine warme Farbe" (Abdellatif Kechiche, FR 2013) gezeigt, der Zum Inhalt: Adaption des gleichnamigen Comics von Jul’ Maroh. Zunächst ist es die Geschichte eines Coming-outs. Die schüchterne Adèle verliebt sich Hals über Kopf in die selbstbewusste Emma mit den auffälligen blauen Haaren (Glossar: Zum Inhalt: Maske/Maskenbild). Die beiden jungen Frauen schlafen miteinander – und die minutenlangen Sexszenen (Glossar: Zum Inhalt: Szene) wollen einfach nicht mehr aufhören. Die Kamera hält auf die nackten Körper, zeigt Details (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen), verzichtet auf musikalische Weichzeichnungen (Glossar: Zum Inhalt: Filmmusik). In Cannes wurden sowohl der Regisseur (Glossar: Zum Inhalt: Regie) als auch die beiden Hauptdarstellerinnen des Films, der sich über weite Strecken als Coming-of-Age-Geschichte (Glossar: Zum Inhalt: Coming-of-Age-Filme) lesen lässt, mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. In Verruf geraten ist er allerdings, je mehr die Darstellerinnen über ihre Wahrnehmung der Dreharbeiten mit Regisseur Abdellatif Kechiche berichteten. Die ungestümen Sexszenen erwecken dadurch den Anschein, nicht einvernehmlich gedreht worden zu sein. Neuerdings beraten Intimitätscoaches oder -koordinator/-innen am Set Stab und Schauspieler/-innen beim Dreh intimer Szenen, um einen achtsamen Umgang dabei zu sichern.
Körper und Selbstbestimmung
Einvernehmlichkeit und Selbstbestimmung spielen auch in einigen aktuellen Filmen über Jugendliche und junge Erwachsene eine wichtige Rolle. Zum Filmarchiv: "How to Have Sex" (Molly Manning Walker, GB 2023) erzählt über eine Freundinnen-Clique, die gemeinsam nach Kreta fliegt, um dort zu feiern. Die Jungs in der Ferienwohnung nebenan versprechen ein schnelles Abenteuer. Während ihre Freundinnen schon Erfahrung haben, hofft Tara auf ihr erstes Mal. Tatsächlich geht sie an einem Abend zusammen mit einem Jungen zum Strand. Aber der Sex ist nicht so, wie sie das eigentlich will – und statt etwas zu sagen, schweigt sie. Ganz nah zeigt der Film Taras Gesicht und lässt das Publikum spüren, wie sie sich fühlt. Die negative Erfahrung von Tara fordert dazu auf, die eigenen Grenzen zu kennen und zu schützen.
Schuldbelastet ist unterdessen auch die Sexualität in Zum Filmarchiv: "Elaha" (Milena Aboyan, DE 2023). Aber die Schuldgefühle kommen nicht von innen, sondern von außen. Die Traditionen ihrer jesidischen Familien verbieten Frauen sexuelle Erfahrungen vor der Ehe. Die 22-jährige Elaha hat "es" trotzdem getan. Nun steht ihre Hochzeit bevor – und damit die Furcht, dass ihr Geheimnis ans Licht kommt. Radikal erzählt die Regisseurin Milena Aboyan über den Wunsch einer jungen Frau nach Selbstbestimmung, zeigt ihren verzweifelten Versuch, es ihrer Familie recht zu machen und dabei auch ihre eigenen Bedürfnisse zu erfüllen. Als sie mit einem guten Freund schläft ist dies ein Akt der Rebellion, der Selbstbefreiung und Selbstbehauptung, ein klares Statement für ihre Selbstbestimmung. Der Körper wird zur Botschaft.
In all diesen Serien und Filmen spielt die Darstellung von Sexualität eine entscheidende dramaturgische (Glossar: Zum Inhalt: Dramaturgie) Rolle. Neu ist, wie reif und reflektiert in ihnen intime Augenblicke inszeniert werden, als selbstverständlicher Teil von Beziehungen, als menschliches Grundbedürfnis. Im Grunde eröffnen diese Filme einem jungen Publikum große Chancen, das Thema Sexualität aus unterschiedlichen Facetten, sehr sinnhaft und bisweilen auch sinnlich zu erfahren.
Die große Sehnsucht
Schließlich gibt es auch immer noch jene Filme, die auf ihre eigene Art Intimität spürbar werden lassen und dafür keine Sexszenen brauchen. In "Love, Simon" (Greg Berlanti, USA 2018) etwa fühlt sich der Titelheld endlich verstanden, als er online und anonym mit einem anderen Mitschüler zu chatten beginnt, der wie er heimlich schwul ist. Simon verliebt sich in den unbekannten Seelenverwandten, mit dem er seine Angst vor dem Coming-out teilen kann. "Love, Simon" folgt dem Erzählmuster der Romanze und unterläuft dabei ebenso selbstbewusst wie sympathisch heteronormative Vorstellungen. Das Gefühl ist wichtig, nicht wer für wen fühlt.
Und auch in seriösen Zum Inhalt: Anime-Produktionen , in denen romantische Liebe oft eine große Rolle spielt und die entgegen hartnäckiger westlicher Vorurteile meist keinen "Fan Service" wie etwa Blicke unter die Röcke der Protagonistinnen oder Nacktszenen enthalten und auch sonst ihre weiblichen Figuren nicht sexualisieren, gibt es solche hochemotionalen Geschichten: Sehnsucht, verträumte Blicke, sanfte Berührungen – ein Meister der Darstellung dieser feinen Intimität ist Makoto Shinkai, der etwa in "The Garden of Words" (JP 2013) oder in "5 Centimeters Per Second" (JP 2007) von Liebe und Liebeskummer erzählt, vermittelt durch Lichtbündel, die durch Wolken scheinen, und sanft zu Boden fallende Kirschblüten. Das alles ist gezeichnet. Aber im Kern sehr ehrlich.