kinofenster.de: Wie realitätsnah sind die im Film "Irdische Verse" dargestellten Konflikte mit den iranischen Autoritätspersonen?

Filmexpertin: Die strenge Form des Films lässt die Situationen womöglich etwas künstlich erscheinen, für mich als Iranerin entspricht das Dargestellte aber hundertprozentig der Realität. Ich habe selbst solche Situationen erlebt. Es hängt immer auch etwas von der Person ab, die vor einem sitzt, ob ein solches Gespräch entspannt verläuft oder nicht. Der Beamte in der ersten Episode, als es um die Namensgebung David geht, hat selbst keinen Spielraum, der Mann von der Führerscheinstelle hingegen schon. Der Film stellt die Kontrollmacht in einem autoritären System dar, das nicht unbedingt der Iran sein muss. Manche der Episoden könnten auch in einem europäischen Land stattfinden.

kinofenster.de: "Irdische Verse" zeigt einen gewissen Widerstandsgeist der Bevölkerung. Trifft das die Stimmung im Iran nach der jüngsten Protestbewegung?

Filmexpertin: Der Film trifft die Stimmung im Iran, die aber schon vor der Protestwelle ab Herbst 2022 ähnlich ausgesehen hat. Die Berichterstattung über die Proteste hat einer größeren nicht-iranischen Öffentlichkeit die Lage der dortigen Bevölkerung vor Augen geführt. Viele Menschen dort hadern mit dem System und testen schon länger die Toleranzgrenzen aus, diskutieren und verhandeln mit Autoritäten. Insbesondere Frauen kämpfen bereits seit einer ganzen Weile für ihre Rechte.

kinofenster.de: Manche Aspekte des Films erschließen sich einem nicht-iranischen Publikum möglicherweise nicht so leicht. Ist zum Beispiel die im Film gezeigte Kameraüberwachung, um den Sitz des Kopftuchs im Straßenverkehr zu kontrollieren, weit verbreitet?

Filmexpertin: Ja, weite Bereiche der Öffentlichkeit werden mit Kameras überwacht. Die Technik dafür stammt übrigens aus Deutschland, von Siemens. Ein nicht-iranisches Publikum kann leicht übersehen, welche Episoden in privatwirtschaftlichen Firmen spielen und welche in staatlichen Institutionen. Das zweite Vorstellungsgespräch im Film ist durch das Setting, das Verhalten des arbeitsuchenden Manns und den Gesprächston klar als staatliche Firma gekennzeichnet. Deshalb spielt die Religion dort so eine zentrale Rolle. Für ein Publikum, das mit dem alltäglichen Leben im Iran nicht so vertraut ist, ist vielleicht auch das Thema Kopftuch schwer einzuordnen. Die Episoden des Films spielen alle in der Öffentlichkeit, wo das Tragen der Kopfbedeckung für Frauen Pflicht ist. In Teheran gibt es aber auch Restaurants, Cafés und ganze Stadtviertel, in denen die Kleiderordnung nicht ganz so konsequent gehandhabt wird. Im Norden Teherans, wo viele Reiche wohnen, können Iranerinnen auch außerhalb privater Räume auf das Kopftuch verzichten. Im Zentrum hingegen, wo die meisten Intellektuellen und Kunstschaffenden leben, herrscht eine strengere Atmosphäre. Dort wird mehr kontrolliert, auch weil in diesem Teil der Stadt die Demonstrationen stattfinden.

kinofenster.de: Eine autobiografisch gefärbte Episode zeigt die Filmzensur durch das Kulturministerium in Teheran. Wie stellt sich die gegenwärtige Situation der in Iran lebenden Filmschaffenden dar?

Filmexpertin: Die Situation für Filmschaffende und die Kulturszene generell ist aktuell sehr schwierig, es ist absolut keine entspannte Zeit für das iranische Kino. Es ist sehr schwer, eine Dreherlaubnis zu erhalten und die staatliche Kulturförderung schließt viele Projekte von vornherein aus. Seit der jüngsten Protestbewegung ist die Kontrolle strenger geworden. Es gehört eine Portion Mut dazu, heute unabhängige Filme im Iran herzustellen. "Irdische Verse" wurde ohne offizielle Genehmigung verdeckt im Iran gedreht. Die Zum Inhalt: Regisseure haben fast alles privat organisiert und den Film dann beim Filmfestival in Cannes eingereicht.

kinofenster.de: Drohen den beiden Regisseuren Konsequenzen?

Filmexpertin: Das ist durchaus möglich, vielleicht passiert aber auch nichts. Die Reaktion der Machthaber im Iran ist willkürlich und hängt unter anderem davon ab, wie ein iranischer Film im Ausland aufgenommen und gedeutet wird.

kinofenster.de: Können interessierte Menschen im Iran einen Film wie "Irdische Verse" im Kino oder auf einem anderen Weg sehen?

Filmexpertin: In den iranischen Kinos läuft der Film eher nicht. Auf dem Schwarzmarkt oder aus dem Internet kann man sich dort aber sämtliche Filme besorgen. Meine Bekannten aus Teheran sehen aktuelle Hollywoodfilme oft früher als ich. Wenn es sich nicht um zu kritische oder aus Sicht der Regierung zu problematische Filme handelt, wird das in der Regel stillschweigend hingenommen. Man kann sich aber nie völlig sicher sein, es gibt im Iran ja keine Rechtssicherheit wie etwa in Deutschland. Es ist ein komplexes System und die Regeln können sich jederzeit ändern oder anders ausgelegt werden.

kinofenster.de: Welche Rolle spielt das Kino im Iran?

Filmexpertin: Der Iran hat eine sehr reiche Kinotradition. Die Filme, die außerhalb des Landes auf Festivals aufgeführt werden, zeigen hauptsächlich einen bestimmten Ausschnitt davon und eine ganz spezifische, meist negative Perspektive auf den Iran. Die Filme werden im Ausland alle als politische Kunst rezipiert, auch wenn nicht alle davon in erster Linie politisch gemeint sind. Im Iran werden auch viele künstlerisch anspruchsvolle Filme produziert, die für ein westliches Publikum weniger interessant sind, weil sie die Politik aussparen. Außerdem werden im Iran viele leichte Unterhaltungsfilme gedreht, vor allem Zum Inhalt: Dramen und Romanzen, Zum Inhalt: Komödien oder Soaps. Wie auch in anderen Ländern hat das Kino als Ort im Iran heute etwas an Strahlkraft verloren, viele Menschen schauen die Filme privat. Was offiziell in den iranischen Kinos startet, ist auch oft nicht besonders interessant oder unfreiwillig komisch, wenn etwa Frauen im Bett ein Kopftuch tragen. Das würde in der Realität niemand tun.

kinofenster.de: Was zeichnet gute Filmbildungsarbeit für Sie aus?

Filmexpertin: Aus meiner Sicht sollte Filmbildung einen Film aus allen Perspektiven betrachten, nicht nur aus einer politischen oder inhaltlichen Warte heraus. Film ist eine Kunstform und nicht nur ein rein politisches Medium. Gute Filme erzählen eine persönliche Geschichte, die natürlich auch politisch sein kann, aber eben auch mehr als das. In Bezug auf iranische Filme dominiert eine eurozentrische Sichtweise. Da wäre eine inklusivere Herangehensweise erstrebenswert.

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