Kategorie: Szenenanalyse
"Das melancholische Mädchen" als experimenteller Spielfilm
Studio-Sets, Pastellfarben und ein markantes Sounddesign tragen zum selbstreflexiven Stil des Films bei. Unsere Filmanalyse erklärt die experimentelle Form anhand von drei exemplarischen Szenen.
Mit adrett hochgesteckten Haaren und im stilvoll beigen Pelzmantel posiert eine junge Frau rauchend vor einer Fototapete – lagunenblaues Wasser, weißer Sandstrand, große Palmen. Dazu liefert das Zum Inhalt: Sound Design passende Geräusche von rauschender Brandung und schreienden Möwen. Aufgrund des komplett künstlichen Settings wird die natürliche Atmo auf der Tonspur als separater Informationskanal wahrgenommen. Sie verweist auf die Gemachtheit des Films. Mit einem selbstreferenziellen Bonmot kommentiert die junge Frau das Geschehen, referiert auf den eigenen Produktionsprozess und gibt zu erkennen, dass sie sich ihrer eigenen Fiktionalität bewusst ist: "Wenn das hier zum Beispiel ein Film wäre, würden wir schon alle diejenigen verlieren, die sich mit der Hauptfigur identifizieren wollen."
Der Prolog: Metaisierung im künstlichen Studio-Setting
Dieser selbstreflexive Kommentar am Filmanfang ist eine der diversen Spielarten von Metaisierung in Zum Filmarchiv: "Das melancholische Mädchen" – also der filmischen Verknüpfung zwischen Darstellungsebene und Dargestelltem. Die durch knallbunte Texttafeln (Glossar: Zum Inhalt: Insert) und Retro-Wischblenden (Glossar: Zum Inhalt: Blende/Überblendung) markierte Unterteilung des Films in 14 lose zusammenhängende Episoden (Glossar: Zum Inhalt: Episodenfilm) (sowie einen Prolog und einen Epilog) trägt ebenfalls dazu bei, das Entstehen einer filmischen Illusion zu unterlaufen. Statt Realismuseffekte zu erzeugen, arbeitet der Film mit Zuspitzungen, Überhöhungen und Verfremdungen. Experimentelle Darstellungsverfahren und Metaisierungsstrategien rücken neben dem Was der Erzählung das Wie in den Vordergrund.
Neben der Textgeschichte läuft eine zweite, die sich in Zum Inhalt: Farben und Formen artikuliert. "Das melancholische Mädchen" charakterisiert eine eigenwillige Ästhetik. In den durchdesignten, meist symmetrischen Zum Inhalt: Bildkompositionen dominieren Pastelltöne: Bonbonrosa, Babyblau und Türkis. Die Bilder sind flach und ohne Tiefe. Unnatürliche Farben stoßen hart aufeinander. Das Abweichen vom default value (einer Farbqualität, die der visuellen Wahrnehmung der Realität ähnlich ist) erzeugt eine weitere Metaisierung der Bilder. Farbe ist hier nicht nur ein ästhetisches Phänomen, über das eine visuelle Verfremdung passiert. Hinzu kommen symbolische Bedeutungen: Leitmotivisch setzt der Film mit Zartrosa und Hellblau zwei Farben ins Bild, die quasi symbolisch für die Geschlechterfrage stehen.
Die Casting-Szene: Anspielung, Zitat, Parodie
Der Clip zeigt einen Casting-Monolog aus der ersten Episode "Feminismus zu verkaufen": Die helle Seite des Farbspektrums gibt den Ausschlag, alles tendiert nach Weiß, nach Pastell. Fahles Graublau ist die Fototapete mit weißen Wölkchen, crèmefarben der Kunstpelzmantel des Mädchens, blass opak ihr Gesicht, das von einer opulent ondulierten Lockenpracht (Glossar: Zum Inhalt: Maske/Maskenbild) flankiert ist. An der visuellen Gestaltung sieht man, es geht um die Konstruktion von Gender – durch Zum Inhalt: Kostüm, Farben und Frisuren. Die unterschiedlichen Frisuren, die das Mädchen in den einzelnen Episoden trägt, sind signature looks von Hollywood-Diven: von
Der Monolog, von der Protagonistin frontal in die Kamera gesprochen, wendet sich insofern gegen Geschlechterstereotype, als er eine Entweder-oder-Logik von eindimensionalen Zuschreibungen negiert. I am every woman – wie der Song von Whitney Houston heißt, der im Text zitiert wird – ich bin sie alle und das sogar gleichzeitig. Mit einer beharrlichen Monotonie ist die Intonation der Stimme ausdrucks- und emotionslos. Neben den strengen Bildkompositionen ist das Zum Inhalt: Schauspiel im Film ähnlich stilisiert und künstlich. Selbst die phrasenhaften Dialoge wirken oft wie Monologe, da die Darsteller/-innen inhaltlich aneinander vorbeireden.
Mittels der absichtsvoll monotonen Spiel- und Sprechweise karikiert die Episode konventionelle Casting- Zum Inhalt: Inszenierungen (z.B. von TV-Shows wie "Germanys next Topmodel" ). Auch der progressive Inhalt des Monologs wird insofern parodistisch unterlaufen, als er nicht "happy" und ohne Emotionalität vorgetragen wird. Insgesamt wirken viele der Dekors wie Staffagen für Werbespots oder wie bühnenhafte Kulissen in Pastellfarben. In "Das melancholische Mädchen" sind die Sets extreme Abstraktionen, die ihre Künstlichkeit unentwegt und offensiv zur Schau stellen. Durch ihre überzeichnete Darstellung wirken die Zustände unnatürlich, künstlich, absurd – und damit auch veränderbar.
Die Badewannen-Szene: Körperbilder und Goethes "Heidenröslein"
Auch die vierte Episode "Die Gewalt der Liebesmärchen" zeigt ein äußerst stilisiertes Szenenbild, das gleichzeitig von extremer Reduktion, Symmetrie und Künstlichkeit ist: In einer barocken Badewanne mit opulentem Schaum liegt das melancholische Mädchen mit einem jungen Mann: Beide tragen Krönchen. Auf der Tonspur erklingen (wie im Film insgesamt) immer wieder betörend-beschwingte Big-Band-Klänge. Die Leichtigkeit der Zum Inhalt: Filmmusik wattiert die Badewannenbilder. Gleichzeitig wird das Geschehen durch deren Retro-Charme in die Ferne entrückt und historisiert. Die unvermittelte Unterbrechung der Musik lenkt erneut die Aufmerksamkeit auf das markante Tondesign des Films.
In der vierten Episode gibt es viele Großaufnahmen, in denen die Figuren direkt in die Kamera blicken (Glossar: Zum Inhalt: Vierte Wand). Der Blick in die Kamera ruft den Apparat, der die Zum Inhalt: Szene aufzeichnet, ins Gedächtnis. Bei einem Zum Inhalt: Schuss-Gegenschuss-Dialog wie hier könnte man von impliziter Metaisierung sprechen, bei einer Direktadressierung der Zuschauer/-innen von expliziter Metaisierung. Im gesamten Film wird das frontale Blicken und Sprechen in die Kamera nahezu obsessiv wiederholt.
Darüber hinaus zeigt der Clip einen ungewohnt schamlosen Blick auf einen nackten Männerkörper: In einer Badewanne stehend singt ein Mann Goethes Heidenröslein. Eine Nahaufnahme fokussiert dazu Unterleib, Penis und Oberschenkel. Im Gegensatz zu vielen nackten Männern ist das melancholische Mädchen fast nie nackt zu sehen. So werden konventionelle Sehgewohnheiten dekonstruiert, das Fetischisierende eines männlichen Blicks vermieden und progressivere Vorstellungen von den Geschlechterverhältnissen etabliert. Vordergründig erscheint die Gesangsszene als komödiantische Verfremdung von gängigen Blickregimen, die meist den weiblichen Körper erotisierend in Szene setzen.
Laut der Texttafel geht es in der Episode um die "Gewalt der Liebesmärchen" – auch in vordergründig harmlosen Volksweisen. In Goethes Heidenröslein heißt es: "Knabe sprach: ich breche dich / Röslein auf der Heiden". Nach einer Wechselrede bricht der Knabe das Röslein, welches ihn dabei zwar sticht, das Brechen aber nicht verhindern kann. Obwohl das Röslein sich wehrt, muss es leiden.
Vor allem eine feministische Rezeption hat das von Goethe umgestaltete Volkslied vom Heidenröslein als versifizierte Verschlüsselung der Geschlechterverhältnisse gelesen und darin ein Bild toxischer Männlichkeit, eine Verherrlichung der Gewalt gegen Frauen und sogar eine Vergewaltigungsfantasie interpretiert. Erneut entsteht eine produktive Diskrepanz zwischen Form und Inhalt des Films, zwischen artifizieller Lollipop-Ausstattung, performativem Gesang und Nacktheit der Figuren.
Weiterführende Links
- External Link Offizielle Webseite des Films
- External Link Filmlexikon Uni Kiel: Selbstreferenz
- External Link Filmlexikon Uni Kiel: Vierte Wand
- External Link Filmlexikon Uni Kiel: Direktadressierung
- External Link Johann Wolfgang von Goethe: "Heidenröslein"
- External Link Deutschlandfunk Kultur: Feminismus in Rosa