Das melancholische Mädchen, gespielt von Marie Rathscheck, hat ein Puppengesicht mit Porzellanhaut und großen runden Augen, die ihr einen Ausdruck permanenten Staunens verleihen. Immer trägt es einen flauschigen Fellmantel, dazu lange Strümpfe (Glossar: Zum Inhalt: Kostüm/Kostümbild). Nur die Frisuren (Glossar: Zum Inhalt: Maske/Maskenbild) ändern sich ständig: Mit elegant hochgestecktem Haarknoten erinnert es an Audrey Hepburn, mit den wilden Locken an Meg Ryan. Eine Nachfahrin endloser Reihen von liebreizenden und nachdenklichen Frauenfiguren der Filmgeschichte also, der Zum Inhalt: Nouvelle Vague und US-amerikanischer Romantischer Zum Inhalt: Komödien. All diese Assoziationen verraten nichts darüber, wer das melancholische Mädchen eigentlich ist: eine namenlose Schriftstellerin mit Schreibblockade, momentan wohnungslos, die durch die Großstadt treibt, sich von Fremden – Männern zumeist – ansprechen und mitnehmen lässt und gelegentlich auch mit ihnen schläft.

Großstadtgeschichten in bonbonbunten Kulissen

Vierzehn lose durch die Suche nach einem Schlafplatz miteinander verbundene Episoden (Glossar: Zum Inhalt: Episodenfilm) bilden das narrative Grundgerüst von "Das melancholische Mädchen" , vierzehn Fragmente (sowie ein Prolog (Glossar: Zum Inhalt: Exposition) und ein Epilog) voller absurder Situationen, die auch als eigenständige Zum Inhalt: Kurzfilme funktionieren. Begleitet von schmissigem Bigband-Jazz (Glossar: Zum Inhalt: Filmmusik) stiefelt das Mädchen durch bonbonbunte (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung) Kulissen, die an die Zum Inhalt: Sets von Werbespots erinnern; Wohnungen, Galerien, Gymnastikräume, wie Tableaus durch eine zumeist starre Kamera eingefangen.

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Von der Großstadt selbst ist genauso wenig zu sehen wie vom Alltagsleben der namenlosen jungen Frau. Darin erinnert sie auf den ersten Blick an den Figurentyp des Manic Pixie Dream Girl, den der Filmkritiker Nathan Rabin als klischeehafte Männerfantasie beschrieben hat: exzentrische, aber stets geschichtslose Frauenfiguren, wie etwa Natalie Portmans Sam in "Garden State" (Zach Braff; USA 2004). Immer treten die Manic Pixies hinter den männlichen Figuren zurück und erfüllen die bloß dramaturgische Funktion, dem Helden seinen Lebensmut zurückzugeben. Meist verschwinden sie anschließend aus der Filmhandlung.

Das melancholische Mädchen ist anders: Es bleibt unabhängig und im Mittelpunkt der Bildgestaltung (Glossar: Zum Inhalt: Bildkomposition), teilt fortwährend seinen Standpunkt mit und kümmert sich wenig um das Seelenheil seiner (meist männlichen) Mitmenschen. Trotzdem vermittelt es ein Gefühl von Verlorenheit. Das liegt daran, dass die anderen Figuren die Protagonistin bloß als Projektionsfläche ansehen. "Cool", lautet die Antwort der Männer, wenn sie Auskunft über ihren Beruf gibt, häufig ergänzt durch die Bemerkung: "Du bist lustig." Worauf das melancholische Mädchen antwortet: "Ich mache nie Witze." Aber da wird schon nicht mehr weitergefragt.

Episodenfilm mit verspielten Experimenten

Monoton sprechen sämtliche Figuren ihren Text. Betont aufgesagt, machen sie das Zum Inhalt: Drehbuch regelrecht hörbar, unterstreichen das Gemachte, das Künstliche des Films. "Das melancholische Mädchen" ist das Regiedebüt einer Schriftstellerin: Susanne Heinrich veröffentlichte bisher Romane und Erzählbände. Mit ihrem Erstlingsfilm hat sie 2019 den Hauptpreis des Filmfestivals Max Ophüls Preis gewonnen und tatsächlich ist ihr Werk eine Anomalie im zeitgenössischen deutschen Filmschaffen. Denn Heinrich formuliert ihr Anliegen mit formaler Strenge und lässt sich dennoch nicht von verspielten Experimenten abhalten: Eine der Episoden könnte auch ein Musikvideo sein, produziert im Rotoskopieverfahren, einer Methode der Animation, bei der die aufgenommenen Einzelbilder auf eine Glasscheibe projiziert und abgezeichnet werden (Glossar: Zum Inhalt: Animationstechniken).

Andernorts drängen sich märchenhafte Elemente ins Geschehen: In einem rosafarbenen Cape auf einem Einhorn sitzend sieht das Mädchen aus wie Aschenbrödel auf dem Weg zum Ball. In einer anderen Zum Inhalt: Sequenz sitzen sie und ein junger Mann in der Badewanne, beide mit Krönchen auf dem Kopf, und reden permanent aneinander vorbei wie moderne Varianten der Königskinder, die einfach nicht zueinander finden.

Das melancholische Mädchen, Szene (© Edition Salzgeber)

"Die Katastrophe ist immer schon passiert"

Nie passiere melancholischen Mädchen etwas, sagt das Mädchen im Prolog des Films halb in die Kamera, halb zu sich selbst, und gibt dem Publikum damit schon einen Hinweis darauf, wie sich der Film lesen lässt. Denn die Katastrophe sei immer schon passiert. Damit ist sicher weniger eine Katastrophe im Sinne eines punktuellen Ereignisses gemeint. Das Problem ist eher der gesellschaftliche Zustand, den der Film zeichnet: Eine eigene Identität finden zu müssen in einem System, das Individuen vor allem zu Konsument/-innen macht und an finanziellen Kapazitäten misst, in dem äußerliche Attribute mehr zählen als innere und "Selbstoptimierung" zum Konsens geworden ist.

Welchen Weg das Mädchen in dieser Welt künftig beschreiten wird, lässt Heinrich offen. Wo sonst die Hauptfiguren eines Films zum Happy End in den Sonnenuntergang reiten, findet sie sich auf einem Laufband vor der Fototapete aus dem Prolog wieder. Am Ende steigt sie herunter, bewegt sich aus dem Bild und lässt die Illusion eines paradiesischen Tropenstrandes hinter sich zurück.

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