Kategorie: Hintergrund
Jugendliche und Sexualität im Film
Ein kurzer historischer Überblick über das europäische und US-amerikanische Kino
Es hat lange gedauert bis Filme die sexuellen Erfahrungen von Jugendlichen zum Thema gemacht haben. Der Text gibt einen Überblick über den historischen Wandel im europäischen und US-amerikanischen Kino.
"How to have sex?" Die Frage hat Jugendliche zu allen Zeiten beschäftigt. Trotzdem dauerte es lange, bis das Kino sie für Heranwachsende stellte. Dabei nimmt Sexualität seit jeher einen zentralen Platz im Film ein: So entstand nur wenige Monate nach der berühmten ersten Kinovorführung der Brüder Lumière am 28. Dezember 1895 mit "The Kiss" (William Heise, USA 1896) der älteste überlieferte "Sexfilm": die 20 Sekunden dauernde Nahaufnahme (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen) einer Frau und eines Mannes in inniger Umarmung, die sich schließlich recht manierlich küssen. Empörung rief der Kassenschlager dennoch hervor, was zeigt: Die Darstellung von Sexualität im Kino lässt sich nicht von den Moralvorstellungen der jeweiligen Zeit trennen. Besonders umstritten sind die Grenzen des Zeigbaren, wenn es sich auf der Leinwand oder davor um Jugendliche dreht. So steht die Entwicklung immer auch im Kontext der Durchsetzung der Rechte, Bedürfnisse und Interessen von Kindern und Jugendlichen.
Zum Schutz der Jugend: Filme ohne Jugend
In den Anfängen des Kinos existierten noch keine Jugendfilme. Heranwachsende sahen dieselben Filme wie Erwachsene. Sex zeigte das frühe Erzählkino meist in Andeutungen oder auf symbolische Weise – aus erwachsener Perspektive und mit erwachsenen Darsteller/-innen. Zwar tummelten sich tragisch Liebende, skrupellose Verführer und bedrohte Jungfrauen auf den Leinwänden. Sexuelles Begehren von Jugendlichen war jedoch ebenso tabu wie Nacktheit. Bezeichnend dafür war die Popularität des US-Stars Mary Pickford, die noch weit in ihren Zwanzigern auf das Rollenstereotyp des "unschuldigen Mädchens" festgelegt war.
Dem rasanten Aufstieg des Kinos hinkte der Jugendschutz nahezu überall hinterher – obwohl jugendlicher Filmkonsum früh problematisiert wurde. So wurde in Deutschland bereits 1920 das Lichtspielgesetz eingeführt: Fortan durchliefen Filme eine behördliche Prüfung, bevor sie vor Minderjährigen gezeigt werden durften. Aber auch andere Staaten installierten nun eine Filmzensur. Sie hegten so den Liberalisierungsschub ein, der die Industriegesellschaften nach dem Ersten Weltkrieg erfasste. Eine Folge für Jugendliche war, dass sie auch vom Besuch aufklärerischer Filme ausgeschlossen waren – wie etwa Richard Oswalds "Anders als die Anderen" (DE 1919), der das Tabuthema Homosexualität behandelt und nach Einführung des Lichtspielgesetzes in Deutschland sogar komplett verboten wurde. Zur sexuellen Aufklärung und Identitätsfindung junger Menschen trug das Kino so nur sehr bedingt bei – während es gleichzeitig voyeuristische Bedürfnisse immer ausgefeilter bediente und mit Stars wie Greta Garbo erotische Idole schuf. Die wenigen Filme, die sexuelle Erfahrungen von Jugendlichen behandelten, betonten die Gefahren vorehelichen Geschlechtsverkehrs. Unter diesen "Problemfilmen" sticht "Mädchen in Uniform" (Leontine Sagan, DE 1931) heraus: Die diskret erzählte lesbische Liebesgeschichte einer Internatsschülerin und ihrer Lehrerin gipfelt in einem Gute-Nacht-Kuss, der auch international Aufsehen erregte.
Familienwerte und Selbstzensur: Das klassische Hollywoodkino
In den 1930er-Jahren verschärften totalitäre Regime wie das nationalsozialistische Deutschland oder die stalinistische UdSSR die staatliche Filmzensur. In den USA dagegen unterwarfen sich die Filmstudios ab 1934 einer Selbstzensur: Der Zum Inhalt: Production Code schränkte die Darstellung von Sexualität rigoros ein. Er bereitete so dem vorgeblich jugend- und familienfreundlichen klassischen Hollywoodkino den Weg, das speziell in Europa rege Nachahmung fand. Gespickt mit sexuellen Codes und anspielungsreichen Dialogen für kundige Erwachsene, bot es Teenagern in ihrem sexuellen Erkundungsdrang kaum Nahrung. Die Filme propagierten das Ideal der weißen bürgerlichen Familie mit der Ehe als einzig legitimem Rahmen für sexuelle Aktivität. Jugend charakterisierten sie als Zustand der Unschuld und Unreife, rebellische Anflüge lösten sich stets in Reue und Läuterung auf. Jugendliches Begehren wurde auf sehnsuchtsvolles Schmachten reduziert oder als unperfekte Imitation von Erwachsenenverhalten ins Komödiantische gewendet - wie in der beliebten "Andy-Hardy" -Serie mit Mickey Rooney (George B. Seitz, USA 1937-1946).
"Schwedenfilme" und die neue Jugendwelle
Ein Wandel kündigte sich in den 1950er-Jahren an, als "Zum externen Inhalt: Schwedenfilme (öffnet im neuen Tab)" die spießigen westlichen Nachkriegsgesellschaften aufschreckten: Arne Mattsons "Sie tanzte nur einen Sommer" ("Hon dansade en sommar" , SE 1951) und Ingmar Bergmans "Die Zeit mit Monika" ("Sommaren med Monika" , SE 1953) erzählten in sinnlichen Schwarz-Weiß-Bildern (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung), die ganz selbstverständlich nackte Körper einfingen, von Heranwachsenden, deren Liebesleben sich über Konventionen einfach hinwegsetzte. Nicht nur in Westdeutschland, wo die Filme für die neu eingeführten Altersfreigaben der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft eine Bewährungsprobe darstellten, sah sich das konservative Establishment herausgefordert.
Eine Jugendwelle brach los: Filme wie "Der Wilde" (The Wild One, Laszlo Benedek, USA 1953), oder "Die Halbstarken" (Georg Tressler, BRD 1957) machten junge rebellische Helden wie Marlon Brando und "Hotte" Buchholz zu Sex-Idolen. In Frankreich kündigte die Zum Inhalt: Nouvelle Vague die Jugendrevolte der 1960er-Jahre an und prägte einen neuen, unverstellten Blick auf Heranwachsende. So fing François Truffauts Kurzfilm "Die Unverschämten" ("Les Mistons" , FR 1957) unverkrampft die sexuelle Neugierde von Pubertierenden ein. Die Zum externen Inhalt: British New Wave (öffnet im neuen Tab) fokussierte auf die Arbeiterjugend: In "Bitterer Honig" ("The Taste of Honey" , UK 1961) erzählte Tony Richardson von einer 17-Jährigen, die sich als Weiße in einen Schwarzen Matrosen verliebt und ihr Kind mit einem homosexuellen Mann großzieht. Auch in den USA, wo sich das Korsett des Production Codes auf- und ein neues Rating-System die Selbstzensur ablöste, entdeckte das Zum Inhalt: New-Hollywood-Kino mit Filmen wie Mike Nichols Zum Filmarchiv: "Die Reifeprüfung" ("The Graduate" , USA 1967) die Jugend.
Sexualisierung von Jugendlichen in der "Sexfilmwelle"
Das plötzliche Interesse am Liebesleben von Jugendlichen hatte auch eine andere Konsequenz: Filme, die nicht zuletzt weibliche Teenager für ein erwachsenes Publikum sexualisierten. Stanley Kubricks Nabokov-Verfilmung "Lolita" (USA 1961), eine parodistische Reflexion männlicher Obsessionen, markiert einen frühen Höhepunkt dieser Entwicklung, die sich im Kontext der 68er-Revolte verstärkte.
Die "sexuelle Revolution", auch Folge der neuen Antibabypille, führte zu einem Wandel der öffentlichen Sexualmoral und brachte ungekannte Nacktheit ins Kino. In der Bundesrepublik fand Sexualerziehung jetzt nicht nur Eingang in den Schulunterricht, sondern auch in die Filmtheater: Aufklärungsfilme mit allerdings oft pseudoseriösem Anstrich bildeten den Ausgangspunkt für eine Sexfilmwelle, die Jugendliche voyeuristisch ausschlachtete. Nackt waren in diesen Filmen vor allem "Schulmädchen". Zunehmend standen nun Minderjährige entblößt vor der Kamera, teils in anspruchsvollen Filmen wie Franco Zeffirellis "Romeo und Julia" ("Romeo and Juliet" , UK/IT 1968), aber auch in schwülen "Lolita"-Filmen wie "Bilitis" (David Hamilton, IT/FR 1977).
In den 1970er-Jahren hielt Nacktheit auch in Jugendfilmen Einzug – etwa in Hermann Zschoches einfühlsamem Liebesfilm "Sieben Sommersprossen" (DDR 1978). Dagegen avancierte "Die blaue Lagune" ("The Blue Lagoon" , Randal Kleiser, USA 1980) mit kitschiger Exotik und schwülstiger Erotik zum internationalen Hit. Das nun explodierende Angebot an Kommerzfilmen für Teenager schloss auch Sex- Zum Inhalt: Komödien ein: "Eis am Stiel" (Boaz Davidson, DE/IS 1978) und seine zotigeren Fortsetzungen richteten ihren Fokus auf pubertierende Jungs. Mit zu "Triebzielen" reduzierten weiblichen Figuren und diskriminierenden Gags wirkten sie stilbildend für ein Zum Inhalt: Genre, das in den demonstrativ unkorrekten Teenie-Sex-Komödien-Hits à la "American Pie" (Paul Weitz, USA 1999) um die Jahrtausendwende wiederauflebte. Eine fast identische Erfolgskurve legte das Teen-Horror-Genre (Glossar: Zum Inhalt: Horrorfilme) hin, dessen Durchbruch Brian De Palmas "Carrie" (USA 1976) markierte. Ein junges internationales Massenpublikum erreichte aber auch die charmant-unterhaltsame Romanze "La Boum – Die Fete" (Claude Pinotau, FR 1980), die ebenfalls fortgesetzt wurde.
Der konservativere Zeitgeist und die grassierende AIDS-Angst drängten im 1980er-Jahre-Kino Darstellungen jugendlicher Sexualität und Nacktheit zurück. Umso spektakulärer wirkte einige Jahre später Larry Clarks "Kids" (USA 1995), der den von Drogen, Kriminalität und HIV überschatteten Alltag einer New Yorker Clique schilderte. Das Kino zeichnete nun einen zunehmend differenzierten Blick auf die Jugend: Drehten sich frühere Zum Inhalt: Coming-of-Age-Filme meist um Jungen, standen jetzt oft auch Heldinnen im Mittelpunkt: "Raus aus Åmal" ("Fucking Åmal" , Lukas Moodysson, SE 1998), der von zwei lesbischen Schülerinnen erzählt, ist zugleich ein Beispiel dafür, dass nun endlich erste Coming-out-Filme für eine jugendliche Zielgruppe gedreht wurden.
Weniger Nacktheit, mehr Diversität – Jugendfilm nach der Jahrtausendwende
Parallel zur Welle der Teenie-Sexkomödien und -Horrorfilme der frühen 2000er fanden mehr und mehr Zum Inhalt: Coming-of-Age-Filme ein internationales Publikum, die nicht in Europa oder den USA produziert wurden. Alfonso Cuaróns erotisches Zum Inhalt: Roadmovie "Y Tu Mamá También – Lust for Life" ("Y Tu Mamá También" , MX 2001) ist ein populäres Beispiel dafür. Ab den 2010er-Jahren erreichte die Entwicklung in Richtung Diversität schließlich eine starke Dynamik – auch begünstigt durch das enorm vergrößerte Film- und Serienangebot durch Streaming-Portale. Homosexualität von Jugendlichen zeigen vor allem westliche Filme wie Zum Filmarchiv: "Mit Siebzehn" ("Quand on a 17 ans" , André Téchiné, FR 2016), Zum Filmarchiv: "Call Me by Your Name" (Luca Guadagnino, I/F/USA/BR 2017) oder "Love, Simon " (Greg Berlanti, USA 2018) seither mit großer Selbstverständlichkeit – nicht zuletzt, indem sie Diskriminierungen aufgreifen wie der Banlieue-Film Zum Filmarchiv: "Besties" (Marion Desseigne-Reval, FR 2021). Dass sich inzwischen auch Filmschaffende aus dem Globalen Süden dem Thema Queerness widmen, belegen Beispiele wie Zum Filmarchiv: "Rafiki" (Wanuri Kahiu, KE 2018) oder "Sharayet – Eine Liebe in Teheran" (Sharayet, Maryam Keshavarz, FR/USA/IR 2011). Und: Lange Zeit nahezu unsichtbar, haben sich Jugendliche mit Behinderung und ihre Sexualität einen Platz im Film erobert – auch wenn das Drama Zum Filmarchiv: "Heute gehe ich allein nach Hause" ("Hoje eu quero voltar sozinho, Daniel Ribeiro" , BR 2014) oder die TV-Mini-Serie Zum Filmarchiv: "1 Meter 20" ("4 Feet High" , AR/FR 2021) noch Ausnahmen darstellen.
Dass die MeToo-Debatte die Sensibilität für sexistische Darstellungen und den Schutz gerade von jungen Schauspieler/-innen geschärft hat, belegt nicht nur der mittlerweile gängige Einsatz von Intimitätskoordinator/-innen bei Dreharbeiten. Nacktszenen (Glossar: Zum Inhalt: Szene) mit Minderjährigen wie in "Bilitis" sind heute kaum noch denkbar. Frei von sexistischen Stereotypen sind Jugendfilme freilich noch nicht. Und wie sehr sich Moralvorstellungen weltweit noch unterscheiden, offenbart das Verbot des Pixar- Zum Inhalt: Animationsfilm "Lightyear" (Angus MacLane, USA 2022) in mehreren muslimischen Staaten. Der Grund: ein Kuss zweier weiblicher Figuren.