Anfang 1959 kamen zwei Filme eines erst 28-Jährigen in die Pariser Kinos: "Die Enttäuschten" ("Le Beau Serge" , 1958) und "Schrei, wenn Du kannst" ("Les Cousins" , 1958) von Claude Chabrol. Von ihm selbst finanziert und mit geringem Aufwand produziert, forderte Chabrol mit seinen Debütfilmen die herrschende Moral heraus. Vor allem galt das für "Schrei, wenn Du kannst" , der, ohne zu werten, das Bild einer zynisch-hedonistischen jungen Pariser Elite zeichnete. Die Zum Inhalt: Szene, in der Hauptdarsteller Jean-Claude Brialy mit der Zum Inhalt: Mütze eines Nazi-Offiziers auf dem Kopf eine Wagner-Oper auflegt, war im Nachkriegsfrankreich, für dessen Selbstverständnis die Resistance eine zentrale Rolle spielte, ein kalkulierter Skandal.

Jean-Claude Brialy und Gérard Blain in "Schrei, wenn du kannst" (© ddp images)

ddp images

Chabrols Provokation führte vor Augen, dass eine neue Generation von Filmemacher/-innen ins Kino drängte. Erstmals berichteten die Medien über die Fachpresse hinaus von einer "Nouvelle Vague" ("Neue Welle") im französischen Film. Damit erfuhr der Begriff, den die Journalistin Françoise Giroud geprägt hatte, eine Bedeutungsverschiebung. Bislang hatte er eine junge Generation beschrieben, die sich für amerikanische Populärkultur begeisterte und sich mit freieren Vorstellungen von Moral und Lebensführung fundamental von den Älteren abgrenzte. Jetzt stand er für eine Kinorebellion gegen das Establishment.

170 Debütfilme in drei Jahren

Die Nouvelle Vague wurde endgültig zum Kinophänomen, als der 27-jährige François Truffaut im April 1959 auf dem Filmfestival von Cannes für seinen ersten Langfilm "Sie küssten und sie schlugen ihn" ("Les 400 coups" , 1959) den Regiepreis erhielt. Der Erfolg des autobiografisch inspirierten Films über einen vernachlässigten Jungen machte die "Neue Welle" des französischen Films auch im Ausland bekannt und ermutigte in Frankreich Produzent/-innen jungen Filmemacher/-innen eine Chance zu geben. Bis 1962 drehten dort fast 170 Regisseur/-innen ihren Erstlingsfilm. Einen Höhepunkt erreichte die Euphorie 1960 mit Jean-Luc Godards ("À bout de souffle" ). In der Rolle des Ganoven stieg Jean-Paul Belmondo zum Star auf und löste mit seinen schnoddrig coolen Posen unter jungen Leuten eine Nachahmungswelle aus, der Soziologen den Namen "Belmondisme" gaben.

Jean-Pierre Léaud in "Sie küssten und sie schlugen ihn" (© ddp images/interTOPICS/LMKMEDIA Ltd.)

ddp images/interTOPICS/LMKMEDIA Ltd.

Der Boom ebbte zwar relativ bald wieder ab – nur wenige Regieneulinge realisierten einen zweiten oder dritten Film. Dennoch setzte die Nouvelle Vague mit ihren ästhetischen Neuerungen und revolutionären Konzepten so nachhaltige Impulse, dass sie den Beginn der Kinomoderne markierte.

Von der Cinephilie zur Regie

Die Hauptakteure der Bewegung, zu denen neben Truffaut, Godard und Chabrol auch Jacques Rivette und Eric Rohmer zählten, hatten als Filmkritiker der Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma begonnen, zu der sie als passionierte Kinogänger gestoßen waren. Paris war nach Ende des Zweiten Weltkrieges Hauptstadt der Cinephilie, das Herz der Kinokultur die Cinémathèque française, in der Filme aus allen Epochen und Ländern zu sehen waren. Als Stammgäste in diesem "Gedächtnis des Kinos" eigneten sich die späteren Nouvelle-Vague-Regisseure ein enzyklopädisches Wissen über Film an, aber auch bestimmte Sichtweisen und Überzeugungen. Für die jungen Cinephilen war das Kino eine Schule des Sehens. Hier schärften sie ihre Wahrnehmung, lernten Filme vergleichend zu betrachten, die Inszenierung und Ästhetik zu analysieren und zu diskutieren. Als Journalisten und als Filmemacher führten sie die Reflektion in der Praxis fort.

In ihren Texten verbreiteten die jungen Kritiker der Cahiers ihre Ideen mit außergewöhnlicher Vehemenz. Erklärter Feind war das etablierte französische Kino, dass sie als steriles cinéma de qualité ("Qualitätskino") oder cinéma de papa ("Papas Kino") verhöhnten. Vor allem Truffaut polemisierte gegen teure Studioproduktionen mit Altstars wie Jean Gabin oder Michèle Morgan, die in bürgerlichen Kreisen als hohe Kunst galten. Für ihn und seine Mitstreiter war dieses Kino ästhetisch erstarrt – unpersönliches, auf große Themen fixiertes Kunsthandwerk, das von einem kleinen Kreis renommierter Zum Inhalt: Drehbuchautoren dominiert wurde, denen das Lebensgefühl der Jugend fremd war.

Als Gegenmodell propagierten die Cahiers die politique des auteurs ("Autorentheorie"), die den Regisseur und die Regisseurin ins Zentrum des kreativen Prozesses rückte. Deren Leitgedanken hatte Alexandre Astruc, ein weiterer Kritiker des Magazins, bereits 1948 formuliert: Wie die Schreibmaschine oder der Federhalter für Literat/-innen, sollte die Kamera das Ausdrucksmittel der Filmemacher/-innen sein. Ein Film wäre somit die persönliche Vision, die ästhetische Umsetzung die Handschrift des auteur. "Kino in der ersten Person Singular" nannte Truffaut diese Vision. Vorbilder fanden die Kritiker in Hollywood-Größen wie Alfred Hitchcock, Howard Hawks oder Orson Welles, aber auch unter B-Movie-Regisseuren und europäischen Individualisten wie Roberto Rossellini, Jean Renoir oder Ingmar Bergman. Ihnen widmeten sie Spezialausgaben mit ausführlichen Interviews und Werkanalysen. Die Cahiers trugen so maßgeblich zum Entstehen eines Klassikerbewusstseins im Kino bei. In ihren späteren Filmen zitierten vor allem Godard, Truffaut und Chabrol ihre Idole. Sie etablierten damit eine Praxis, die auch heute noch im Autorenkino, etwa in den Filmen Quentin Tarantinos, verbreitet ist.

Kino, das Kino reflektiert

Die ersten Nouvelle-Vague-Filme entstanden mit sehr kleinen Budgets. Viele Jungfilmer/-innen versuchten sich zunächst an Kurzfilmen und orientierten sich in ihren Produktionsmethoden am italienischen Zum Inhalt: Neorealismus und B-Movies: Sie drehten auf der Zum Inhalt: Straße, in Cafés oder echten Wohnungen, mit kleinen Crews und oft mit Laien. Das Equipment beschränkte sich in der Regel auf eine leichte Kamera, ein mobiles Tonbandgerät und ein einfaches Stativ. Der weitgehende Verzicht auf Zum Inhalt: Kunstlicht unterstrich die Zum Inhalt: dokumentarische Anmutung. Wegweisend für diese Art zu filmen war Agnès Varda, die bereits 1955 mit kleinem Team und an Originalschauplätzen "La Point-Courte" realisierte – gewissermaßen einen Prä-Nouvelle-Vague-Film.

Charles Aznavour in "Schießen Sie auf den Pianisten" (© ddp images)

ddp images

In ihrer Improvisationslust und Hinwendung zur Alltagsrealität liegt ein Schlüssel zur Attraktivität der Nouvelle Vague: Auch heute noch vermitteln die Filme das Gefühl, jung zu sein, das Leben und die Liebe zu entdecken und das Kino zu lieben. Mit scheinbaren handwerklichen Fehlern – die Über- und Unterbelichtungen, Achsensprünge und Zum Inhalt: Jump Cuts in oder auch in Truffauts "Schießen Sie auf den Pianisten" ("Tirez sur le pianiste" , 1960) – richteten sie sich demonstrativ gegen den glatten Illusionismus des Qualitätskinos. Indem sie den düsteren Zum Inhalt: Dramen des Zum Inhalt: Film noir ihre Referenz erwiesen, unterstrichen die Regisseure den Statement-Charakter ihrer Filme. Im gezielten Verstoß gegen die Konvention des unsichtbaren Erzählens und damit im Sichtbarmachen und Reflektieren der filmischen Form liegt die wohl revolutionärste Neuerung der Nouvelle Vague. Hierin zeigt sich das Selbstverständnis dieser ersten Generation des Autorenfilms: mit der Kamera in der Hand Filmkritik zu üben, Kino zu reflektieren. Nicht zuletzt aus diesem Grund eignet sich die Nouvelle Vague im besonderen Maße als Gegenstand der Filmbildung.

Anna Karina und Jean-Paul Belmondo in "Eine Frau ist eine Frau" (© ddp images)

ddp images

Auch einen neuen Sound brachte die Nouvelle Vague ins Kino: Die Filme integrierten Chansons und Popmusik auf der Handlungsebene, etwa indem sie mit Musicalelementen spielten wie Godards Zum Filmarchiv: "Eine Frau ist eine Frau" ("Une femme est und femme" , 1960). George Delerues lyrische Zum Inhalt: Filmmusiken oder auch jazzige Scores brachen mit den emotionalisierenden symphonischen Klangteppichen des traditionellen Kinos und verliehen den Filmen einen ganz eigenen Charme.

Die Innovationen der Nouvelle Vague beschränkten sich freilich nicht allein auf formale Aspekte: Filme wie Vardas Zum Filmarchiv: "Cléo – zwischen 5 und 7" ("Cléo de 5 à 7" , 1961) oder Alain Resnais‘ "Hiroshima, mon amour" (1959) zeichneten den Wandel in den Geschlechterverhältnissen nach und entwarfen ein modernes Frauenbild. Schauspielerinnen wie Jeanne Moreau, Jeanne Seberg oder Anna Karina verkörperten aktive und selbstbestimmte Frauentypen und avancierten zu weiblichen Ikonen des modernen Kinos.

Corinne Marchand in "Cléo – Mittwoch zwischen 5 und 7" (© ddp images)

Das Erbe der Nouvelle Vague

Trotz dieser Gemeinsamkeiten lässt sich die Nouvelle Vague nicht eindeutig als Stilrichtung kategorisieren. Wiesen die Filme anfangs noch Übereinstimmungen auf, etwa die "notorischen" Querverweise auf Filme der Mitstreiter/-innen, differenzierten sich bald individuelle Ansätze aus – was freilich der Logik des Autorenkonzept entspricht. Mit der Politisierung der 1960er brach die Nouvelle Vague als Bewegung auseinander: Während die Cahiers und auch Godard im Mai 1968 sozialistische Positionen bezogen und ein revolutionäres Kino propagierten, näherten sich Chabrol, Truffaut und andere dem Unterhaltungskino an. Unabhängig davon inspirierte die Nouvelle Vague filmische Erneuerungsbewegungen in aller Welt: das Zum Inhalt: New-Hollywood-Kino, die Tschechoslowakische Neue Welle, den Neuen Deutschen Film in der BRD und die "Kellerfilme" der Jahre 1965/66 in der DDR. Heute lebt das Erbe der Nouvelle Vague im internationalen Independent-Kino fort. Die nach wie vor bestehende Cahiers du Cinéma war zumindest bis in die jüngste Vergangenheit die publizistische Heimat des unabhängigen Films. Die Übernahme des Magazins durch ein Medienkonsortium im April 2020 zeigt jedoch, dass der Kampf um eine lebendige Filmkultur genauso notwendig bleibt wie in den Anfangstagen der Nouvelle Vague.

Mehr zum Thema