In der Geschichte des Kinos kennt man das Kinoerzählen als eine Form mündlicher Praxis, mit der ursprünglich die bewegten Bilder des Zum Inhalt: Stummfilms zum Sprechen gebracht wurden. Dabei lieh ein/-e Erzähler/-in im Zuschauerraum den Filmfiguren die Stimme und kommentierte die filmische Handlung. In Europa, Amerika und Asien starb diese Kunst um 1930 mit dem Aufkommen des Tonfilms aus. Anders in Afrika. Dort hat das Kinoerzählen nicht nur den Wechsel vom Stummfilm zum Tonfilm überdauert, sondern erlebt seit den 1990er-Jahren in ostafrikanischen Videokinos eine neue Blüte. In diesen meist mit Fernseher, Videorekorder und harten Holzbänken recht spartanisch ausgestatteten Kinos laufen US-amerikanische Actionfilme, Bollywood-Schnulzen, Kung-Fu-Filme und nigerianische Nollywood-Dramen. Abseits offizieller Distributionswege gelangen diese Filme als DVD-Raubkopien aus Asien nach Afrika, wo sie entlang etablierter Netzwerke der Videopiraterie verbreitet werden. Ein begeistertes Publikum finden sie auch deshalb, weil sie von sogenannten Videojockeys, kurz VJs, erzählerisch in den lokalen Sprachen begleitet werden.

Die Wurzeln des VJing liegen zum einen in der Kolonialzeit, als einheimische Übersetzer/-innen zur Live-Kommentierung von britischen Zum Inhalt: Propagandafilmen herangezogen wurden, zum anderen in informellen Zuschauerpraktiken. Aus kongolesischen Kinos der 1980er-Jahre wird berichtet, dass jugendliche Kinobesucher/-innen ganze Zum Inhalt: Filmszenen vor der Leinwand nachspielten und die Filmfiguren dabei anfeuerten. Mitunter gaben sie ihnen auch Namen, die sie der lokalen Lebenswelt entlehnten, was die Filme mit einer satirischen Bedeutung anreicherte. In Kenia kannte man zur gleichen Zeit noch eine Variante des Wanderkinos, das mit US-amerikanischen Filmen, Italo-Western (Glossar: Zum Inhalt: Western) und Laurel-und-Hardy-Komödien durch ländliche Regionen tourte und dort in den Vorführpausen Konsumartikel bewarb. Kinoerzähler (in diesem Kontext wohl ausschließlich Männer) waren fester Bestandteil des Programms solcher Veranstaltungen.

Videojockeys sind Mittler zwischen Film und Publikum

Eine grundlegende Funktion des Kinoerzählens besteht darin, die Filme – und damit auch die anderen Lebenswelten, auf die sie verweisen – einem einheimischen Publikum näherzubringen. Kinoerzähler/-innen werden dabei zu Mittlern, die die Distanz zwischen der Welt des Films und der Alltagswelt der Zuschauer/-innen überbrücken. Entsprechend beschränken sie sich nicht allein auf die Übersetzung der Filmdialoge in einheimische Sprachen, sondern übertragen Filmbilder in mündliche Erzählungen, kommentieren das Geschehen auf der Leinwand und bieten Hintergrundinformationen zu den mitwirkenden Personen und Zum Inhalt: Drehorten. Über den ugandischen Videojockey Super Charger heißt es beispielsweise, er verwandele sich beim Kinoerzählen in eine wahre Hollywood-Enzyklopädie.

Supa Moda, Szene (© One Fine Day Films)

In Ostafrika wird das VJing oft mit dem Würzen von Speisen verglichen, so dass die Kunst des Kinoerzählens auch als Anpassung von Filmen an lokale Geschmacksgewohnheiten verstanden werden kann. Der tansanische Kinoerzähler Juma Khan erklärte der Ethnografin Sandra Groß: "Wenn du dem Film eins zu eins folgst, wird das Resultat nie gut sein, egal wie gut der Film ist. Unser Zielpublikum sind die Menschen, mit denen wir zusammenleben, die wir kennen. Wir wissen, was unser Publikum mag. So verwenden wir die Geschichte des Films und übersetzen sie in eine Geschichte, die sich die Menschen hier auf der Straße erzählen würden."

"Supa Modo" : Videokino als Ort globaler Verflechtung

Von ihrem Publikum werden VJs als Wortkünstler/-innen mit individuellen Stilen geschätzt. Sie sind selbst kleine Stars und tragen Künstlernamen, die sich von Schauspielikonen herleiten oder von ihren Zukunftsträumen künden. Im tansanischen Daressalam sind Juma Khan, Amir Khan und Sharukhan auf Bollywood-Filme spezialisiert, King Rich übersetzt ausschließlich nigerianische Videos, und DJ Mark interpretiert vorzugsweise Hollywood-Filme. Mighty Mike, der kenianische Videojockey und Kinobetreiber im Film Zum Filmarchiv: "Supa Modo", ist laut Firmenschild auch als Hochzeits- und Beerdigungsfilmer tätig. Eine solche Kombination von Berufen rund um das Medium Video ist in Ostafrika keine Seltenheit. Auch einige Pioniere der regionalen Videofilmindustrien, die in den 2000er-Jahren in Tansania, Kenia und Uganda entstanden sind, kamen aus diesem Metier. Insofern ist es nur folgerichtig, dass auch Mighty Mike zum Regisseur des Films im Film wird.

Supa Moda, Szene (© One Fine Day Films)

Es lohnt sich, einen Blick auf einige Details der Szene zu werfen, die Mighty Mikes Studio & Sinema zeigt, da sie durchaus dokumentarische Qualitäten hat. Bereits der Schriftzug über dem Eingang stiftet eine symbolische Beziehung. Hier wird Maweni, der kenianische Handlungsort des Films, mit der US-amerikanischen Metropole Los Angeles, dem Sehnsuchtsort vieler Filmschaffender weltweit, in Verbindung gebracht. Diese symbolische Verflechtung von lokaler Rezeptions- und globaler Filmkultur wird im Inneren des Kinos fortgesetzt. "Movies & Stories" prangt in Neonbuchstaben über dem Kassenhäuschen und verweist darauf, dass im Videokino audiovisuelle und mündliche Erzählkunst aufeinandertreffen. Die silbern glitzernden DVD-Rohlinge und die in Zellophan eingeschweißten Cover fernöstlicher Raubkopien, die das Kassenhäuschen schmücken, rufen das Medium Video und die Netzwerke der Videopiraterie auf, die für die Institution des Videokinos von zentraler Bedeutung sind. Mighty Mikes "Sinema" stellt bereits eine vergleichsweise luxuriöse Variante dieser Institution dar. Eine Projektion per Beamer hat hier den lange üblichen TV-Bildschirm abgelöst, gepolsterte Sitze ersetzen die sonst üblichen Holzbänke. Videokinos sind männlich dominierte Orte mit anrüchigem Ruf, entsprechend pfeifen in dieser Szene einige Kinobesucher der älteren Schwester der kindlichen Protagonistin nach und machen anzügliche Bemerkungen.

Kinoerzählen als intermediale Praxis

Als Gattung mündlichen Erzählens, die an eine bereits existierende filmische Erzählung gekoppelt ist, stellt das Kinoerzählen, wie es gegenwärtig in Ostafrika praktiziert wird, einen interessanten Fall von Intermedialität dar. Dabei wird eine audiovisuelle Erzählung in eine sprachliche und damit hörbare Form überführt, wobei die beiden medial unterschiedlich verfassten Erzählungen nicht getrennt voneinander, sondern zeitgleich aufgeführt werden. Der eingesprochene Text des Erzählers oder der Erzählerin gilt nicht als Ablenkung vom Film, sondern als dessen sinnvolle Ergänzung. Er hilft den Zuschauer/-innen zum einen als sprachlich-kulturelle Übersetzung und zum anderen, weil er die im Videokino eingeschränkte visuelle Wahrnehmbarkeit der Filme ausgleicht, indem er die Filmbilder hörbar macht. Nicht nur wer in der letzten Reihe eines Videokinos sitzt, ist auf diesen medialen Transfer angewiesen, um aus den technisch nicht immer hochwertigen Bildern, die über einen kleinen Bildschirm weit vorne im Raum flimmern, eine Geschichte und aus dem Kinobesuch ein Erlebnis zu machen.

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