Die Aufgabe von Zum Inhalt: Dokumentarfilmerinnen und -filmern besteht darin, die Realität zu dokumentieren – nicht, diese zu beeinflussen oder zu verändern. Doch schon das Filmen an sich stellt einen Eingriff in die Realität dar. "Sie sollten als Filmemacherin nicht in das Leben ihrer Protagonistin eingreifen. Sie brauchen eine gewisse Distanz, um das ganze Bild zu erfassen", ermahnt im Film Zum Filmarchiv: "Sonita" der Kameramann die Regisseurin Rokhsareh Ghaem Maghami. Sie aber entscheidet letztlich zu helfen, als menschlich verständliche Reaktion auf die aussichtslose Lage ihrer Protagonistin. Mit dieser Entscheidung stellt sich die Filmemacherin in letzter Konsequenz in die Tradition des Zum Inhalt: Cinema Vérité, in dem die Filmenden und die Gefilmten in unmittelbarer Interaktion stehen. Der Eingriff in die Wirklichkeit durch die Kamera wird in "Sonita" früh spürbar, als das Mädchen während eines Interviews seine Nichte bittet, die Seifenblasen nicht in die Linse zu pusten.

Chemie zwischen Regisseurin und Protagonistin

Auch ich stelle mir seit 15 Jahren immer wieder die Frage, in welchem Maße ich in meiner Tätigkeit als Dokumentarfilmerin in die Realität eingreifen darf. Dabei sind die Übergänge vom Dokumentieren zum Beeinflussen oft fließend, beginnt der erste "Eingriff" in die Realität doch gewöhnlich schon in dem Moment, in dem ich mich für einen bestimmten Menschen entscheide. So sollten die Protagonistinnen beziehungsweise Protagonisten einerseits Einblick in eine erzählenswerte gesellschaftliche Wirklichkeit gewähren und zugleich mit einem gewissen Selbstverständnis vor der Kamera agieren. Ganz wichtig ist mir zudem, dass ich auf Menschen treffe, deren Persönlichkeit einen starken Eindruck hinterlässt. Hier höre ich auf mein Bauchgefühl: Wie fühlt sich die Chemie zwischen uns an? Nicht zuletzt mag ich Protagonistinnen und Protagonisten, die eine gewisse Widersprüchlichkeit mit sich bringen. Sie sollen bestimmte Erwartungen erfüllen und diese an anderer Stelle wieder brechen. Bei Sonita liegt dieser Widerspruch in ihrer Lebensgeschichte. Auf der einen Seite sind ihre Wurzeln in einer Gesellschaft, die in starren Traditionen verhaftet ist. Auf der anderen Seite bekommt sie durch ihre Flucht und den Aufenthalt in der sozialen Einrichtung Einblicke in eine "neue Welt". Im Iran lernt sie, ihre Liebe zum Hip-Hop für ihren Kampf gegen traditionelle Werte einzusetzen.

Sonita, Szene (© Real Fiction)

Arrangierte Szenen

Dokumentarfilme entstehen in der Regel ohne Zum Inhalt: Drehbuch. Im Prozess der Dreharbeiten erhofft man sich bestimmte Situationen oder Veränderungen, die das Thema anschaulich machen und einen spannenden Film versprechen. Die Kunst des Dokumentarfilmens besteht darin, ein Gespür dafür zu entwickeln, welche Situationen sich exemplarisch für eine Geschichte eignen. Als Regisseurin liegt die Entscheidung bei mir, ob ich ausschließlich die Situation einfange oder auch Szenen inszeniere, also den Moment für die Kamera verändere oder geschehen mache. Die Regisseurin begleitet in "Sonita" vornehmlich die Protagonistin in ihrem Alltag. Es gibt aber auch Momente, die eindeutig arrangiert sind oder bei denen es zumindest naheliegt, dass die Regisseurin sie vorher einstudiert hat. Das gilt in erster Linie für Szenen, die wichtige Informationen vermitteln: wie das Interview über Sonitas Familiensituation oder als sie um einen Vorschuss für die Miete bittet.

Die Position der Kamera

Eine wichtige Frage beim Dreh ist die Position der Kamera. In jeder Situation muss die Regie in Absprache mit der Kamera die Perspektive neu bestimmen. Filme ich in einer Gruppe alle Anwesenden oder lenke ich die Aufmerksamkeit auf einzelne Personen? Welchen Zum Inhalt: Bildausschnitt wähle ich? Arbeite ich mit einer kurzen oder längeren Brennweite? In einer zentralen Szene des Films ist Rokhsareh Ghaem Maghami ebenfalls mit dieser Frage konfrontiert und löst das Problem auf visuell überzeugende Weise. Als Sonita die Regisseurin um Geld bittet, sitzt sie auf dem Boden in der Ecke eines Raumes. Die Kamera blickt aus einer Zum Inhalt: Aufsicht auf sie herab. Diese Einstellung verstärkt den Eindruck von Sonitas Verletzlichkeit, denn sie ist nicht nur im übertragenen Sinn, sondern auch durch die Perspektive der Kamera "in die Ecke gedrängt".

Sonita, Szene (© Real Fiction)

Verantwortung für den Menschen

Die Dokumentarfilmarbeit beruht auf einem fragilen Verhältnis. Der oder die Porträtierte vertraut sich der Filmemacherin an. Daher mache ich zu Beginn der Dreharbeiten stets deutlich, dass der Film letztendlich mein Bild wiedergibt und nicht das Selbstbild des oder der Gefilmten. Doch selbst wenn anfänglich Einigkeit zwischen den beiden Parteien herrscht, kann es während der Zusammenarbeit zu Meinungsverschiedenheiten kommen. In solchen Situationen ist es wichtig zu verstehen, wovor genau die Menschen sich schützen wollen beziehungsweise wovor ich sie in dem Bild, das ich von ihnen in der Öffentlichkeit zeichne, schützen soll.

Als Filmemacherin muss ich mir stets meiner Verantwortung für den Menschen vor der Kamera bewusst sein. Zu meinen Aufgaben gehört es also auch zu erklären, worum es mir in meiner Arbeit geht und warum es wichtig ist, bestimmte Aspekte über einen Menschen oder einen Sachverhalt zu erzählen. Das kann letztlich dazu führen, dass ich mich – um die Menschen vor sich selbst zu schützen – gegen bestimmte Situationen im Film entscheide. Nicht zuletzt haben die Protagonistinnen und Protagonisten auch die Möglichkeit, sich während der Dreharbeiten der Kamera zu verweigern. So wie die Szene, in der Sonita ihr Kopftuch abnehmen möchte und sie die Regisseurin bittet, die Kamera abzuschalten. Als diese der Bitte nicht nachkommt, macht Sonita einfach das Licht aus.

Moralisches Dilemma thematisieren

Der "Eingriff" in die Realität, vor dem der Kameramann warnt, ist also allgegenwärtig. Der Anspruch, Distanz zu wahren, erweist sich oft als schwierig, wenn man einen Menschen so eng und intensiv begleitet. Am Ende entscheidet sich Ghaem Maghami dafür, Sonitas Mutter Geld zu geben. Wäre das Leben von Sonita anders verlaufen, wäre sie der Filmemacherin nicht begegnet? Höchstwahrscheinlich. Doch auch ohne die Hilfe der Filmemacherin ist Sonitas Geschichte außergewöhnlich, weil sie sich schon vor der drohenden Zwangsverheiratung mit ihrer gesellschaftlichen Situation auseinandergesetzt hat. Der Film zeigt darüber hinaus, welches Potenzial in Menschen steckt, die es wagen, für ihre Freiheit zu kämpfen. Zurück bleiben aber auch die Bilder der Mädchen, die von ihren Familien zwangsverheiratet werden. Sonita hat als eine von wenigen das große Glück, ihrer gesellschaftlichen Rolle zu entkommen. Möglicherweise wäre ihr das ohne den "Eingriff" von außen nicht gelungen. Ghaem Maghami handelt als Dokumentarfilmerin, indem sie ihren eigenen Konflikt und ihre Hilfe vor der Kamera thematisiert.

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