Kategorie: Hintergrund
Meine junge Mutter Sarya
Die Mutter unserer Autorin wurde im Alter von 14 Jahren in ihrem türkisch-kurdischen Heimatdorf verheiratet. In dem Porträt über ihre Mutter berichtet Dilan Atli auch von ihrer persönlichen Auseinandersetzung mit der Thematik.
Unsere Autorin Dilan Atli wurde 1991 in der Türkei geboren und kam 1996 mit ihren Eltern nach Deutschland. Alle Namen im Artikel wurden von der Redaktion geändert.
Eine Freundin meinte kürzlich: "Man muss wissen, woher man kommt, um zu wissen, wohin man will." Der Satz hat mich beschäftigt. Ich war während des Studiums ein wenig orientierungslos und suchte nach Antworten auf Fragen, die ich nicht einmal kannte. Mir war klar, dass viele Dinge, die mich umtrieben, der Tatsache geschuldet waren, dass ich – anders als meine deutschen Kommilitoninnen – noch mit einem weiteren kulturellen Erbe aufgewachsen bin.
Meine Familie ist Anfang der 1990er-Jahre aus dem kurdischen Teil der Türkei nach Deutschland geflohen. Mein Vater war politisch aktiv, er setzte sich für die Rechte der unterdrückten Kurdinnen und Kurden ein. Obwohl er aus einer wohlhabenden Bauernfamilie stammte, mussten wir unser Land verlassen, da das türkische Militär ihm mit dem Tod drohte. Das Leben in Deutschland unterschied sich sehr von dem in Kurdistan. Während unsere Familie in ihrem Dorf viel Land besaß, mussten wir in Deutschland zunächst in einer Sozialwohnung unterkommen. Ich habe mich selten mit meiner Mutter Sarya über ihr Leben vor der Ehe und unsere Flucht unterhalten. Erst in meinem letzten Bachelorstudienjahr fragte ich sie, wie es eigentlich dazu gekommen war, dass sie meinen Vater geheiratet hatte. Damals blickte ich in ihr Gesicht und meinte, das junge Mädchen von vor 26 Jahren zu sehen.
Ich bin mit dem Bewusstsein aufgewachsen, dass Sarya in ihrer frühen Jugend verheiratet wurde. Als junges Mädchen hatte ich diese Tatsache nie infrage gestellt, da ich dachte, sie wäre früher normal gewesen. Erst als ich älter wurde, begann ich, die Heirat meiner Eltern zu hinterfragen. Westliche Medien berichten oft über das Thema der Zwangsehe. Die Schilderungen bedienen sich meist der Stereotypen des gewalttätigen Vaters und der hilflosen Mutter und Töchter. Diese Darstellungen decken sich jedoch nicht mit dem, was ich über meine Eltern und Großeltern weiß. Was ich stattdessen sehe, sind Eltern, die wie alle Menschen gesellschaftlichen Normen unterliegen.
Meine Mutter war 14, als sie an meinen Vater Viyan verheiratet wurde. Sie hatte gerade zum ersten Mal ihre Tage bekommen, als er mit 18 Jahren seinen Wehrdienst beendete und über die Hochzeitspläne informiert wurde. In seiner Jugend spielte Viyan leidenschaftlich Gitarre und träumte davon, Musiker zu werden. Mein Vater wusste genauso wenig über die Heiratsvorhaben wie meine Mutter. Er hatte seine Musik und den kurdischen Freiheitskampf im Kopf. Ein Onkel seines Vaters hatte Sarya bei einem Besuch gesehen. Danach dauerte es nicht lange, bis Viyans Vater an der Tür ihrer Familie klopfte. Für die Eltern meiner Mutter war es ein schwerer Tag. Meine Großmutter war selbst früh verheiratet worden und fühlte sich ein Leben lang ihrer Jugend beraubt. Ihre Tochter wollte sie vor diesem Schicksal bewahren. Aber sie hatten keine Wahl. Hassan Meran war einer der mächtigsten Männer in der Dorfgemeinschaft. Hätten sie seinen Antrag abgelehnt, hätte das ihren sozialen und wirtschaftlichen Ruin bedeutet.
Sarya verstand damals noch gar nicht, was der Besuch bedeutete. Sie war viel mehr damit beschäftigt, mit ihren Schwestern im Bach zu baden. Einige Monate später war sie Ehefrau und nur neun Monate darauf wurde sie Mutter. Wenn sie von diesen Ereignissen erzählt, schmerzt sie vor allem die Tatsache, dass sie sich von ihrer Familie trennen musste. "Ich kam aus einer sehr progressiven Familie, Frauen und Männer waren gleichberechtigt. Wir haben immer zusammen an einem Tisch gegessen", erzählt sie lachend. "Meine Schwiegereltern waren dagegen streng. Ich fühlte mich nicht so frei wie vorher, vor allem weil die Männer viel mehr Rechte besaßen als die Frauen." Wenn ich meine Mutter nach ihren Gefühlen frage, klingt sie nüchtern. "Das war halt früher so, so hat das funktioniert und alle haben danach gelebt." Im Gegensatz zu mir ist Sarya nicht wütend darüber, dass sie nicht wie ich zur Schule gehen und studieren konnte. Sie lächelt bloß und sagt, dass sie zufrieden sei mit ihrem Leben. Ihr Blick ist dann erfüllt von Stolz.
Die Immigration nach Deutschland und die Anpassung an das Wertesystem erwiesen sich vor allem für mich als Vorteil. Ich wurde zu keiner Ehe gezwungen. Darüber bin nicht nur ich sehr froh, auch meine Eltern sind es. Und dennoch ist in Deutschland nicht alles besser geworden – so wie in unserem kurdischen Dorf auch nicht alles schlecht war. Ich finde es nicht gut, dass meine Eltern jung verheiratet wurden, weil sie dachten, es sei normal. Was normal ist, durften sie ja ohnehin nicht mitbestimmen. Gleichzeitig finde ich es schade, dass meine Familie in Deutschland nicht mehr so zusammenhält wie früher. Damals saßen wir jeden Abend im Haus meines Großvaters. In Deutschland hat jeder sein eigenes Haus – und dazu noch ein großes Auto.
Die Geschichte meiner Mutter zeigt, dass die Zwangsehe in sozioökonomische Strukturen eingebettet ist. Dabei unterliegen nicht nur Frauen, sondern auch Männer dem gesellschaftlichen Druck. Meine Eltern sind in einer patriarchalen Gesellschaft aufgewachsen, in der die mächtigsten Männer die Normen der Gesellschaft diktiert haben. Sie konnten sich ein Stück weit aus diesen Zwängen lösen. Der unterschiedliche Alltag ihrer beiden Familien zeigt aber auch, dass der gesellschaftliche Status der Frau nicht nur von übergeordneten Strukturen abhängig ist, in denen sie aufwachsen. Sie werden auch innerhalb einzelner gesellschaftlicher Gruppen unterschiedlich ausgelebt. Saryas Vater weinte heimlich, als er seine Tochter zu früh verheiraten musste. Seiner Schwester Ronaj wiederum, die in ihrem Haushalt das Sagen hat, wagt kein Mann dieser Welt, die Leviten zu lesen.
Mir ist natürlich bewusst, dass meine Familiengeschichte nicht zu verallgemeinern ist. In vielen Teilen der Welt wird die Zwangsehe bis heute praktiziert und für viele Beteiligte geht sie nicht so glimpflich aus wie für Sarya. Aber wenn ich heute in das Gesicht meiner erst 40-jährigen Mutter schaue, denke ich weniger daran, dass sie jung verheiratet wurde. Ich denke daran, wie lebendig sie von ihrem Leben erzählt und dass sie inzwischen ihr eigenes Geld verdient. Ich sehe eine Frau mit Lebenserfahrung und einer komplexen Persönlichkeit, die sich nicht auf den Begriff der Zwangsehe reduzieren lässt.