Kategorie: Hintergrund
Sequenzanalyse: "Lange hab ich auf die Russen gehofft"
Während die Hausgemeinschaft der Villa von Braun die sowjetische Armee mit gemischten Gefühlen erwartet, sehnt sich Christine schon lange nach den "Russen". Es ist ein Moment, der alles verändern wird.
"Die Russen kommen!", schreit die Mutter ängstlich ihr Kind an, als die Ankunft der Roten Armee unmittelbar bevorsteht. Christine Nöstlinger beschreibt die Szene in ihrem autobiografischen Roman als denkwürdigen Moment für sich und ihre Familie. Als die sowjetische Armee schließlich vor der Haustür steht und die Mutter die Wehrmachtsuniform des Vaters kurzerhand im Ofen verbrennen will, ist Christine wie gelähmt und sieht das vertraute Haus nur noch unförmig und verschwommen. Auch im Film Zum Filmarchiv: "Maikäfer, flieg!" nimmt diese Zum Inhalt: Sequenz, die in drei kürzeren Zum Inhalt: Szenen das Warten auf die Rote Armee schildert, eine wichtige dramaturgische Funktion ein.
Die Sequenz teilt den gesamten Film in zwei Hälften (vor dem Krieg/nach dem Krieg – unter nationalsozialistischer Herrschaft/unter sowjetischer Besatzung) und versucht mit eindringlichen filmischen Mitteln, die sich zum Teil deutlich vom Rest des Films unterscheiden, zu erzählen, wie das neunjährige Kind das Kriegsende wahrnimmt. Während Christine nämlich die Ankunft der "Russen" herbeisehnt, dominiert bei den Erwachsenen im Haus die Furcht vor einer ungewissen Zukunft. Werden die sowjetischen Soldaten ihnen etwas antun, wie es von der NS-Propaganda gegen Ende des Krieges gezielt verbreitet wurde? Und was wird mit Christines Vater geschehen, wenn die Rotarmisten ihn als deutschen Soldaten entlarven?
Die Unbefangenheit des Kindes
Mit einer Zum Inhalt: Kamerafahrt aus der Zum Inhalt: Aufsicht, die schließlich auf dem Gesicht der soeben erwachten Christine verharrt, beginnt die erste Szene der Sequenz, die einen Eindruck ihrer kindlichen Unbefangenheit vermittelt. Zusammen mit Gerald und ihrer Schwester ist Christine zum Schutz vor der sowjetischen Armee über Nacht im Keller einquartiert worden. Doch während die Erwachsenen die anrückende Armee fürchten, haben die Kinder eher Angst vor Mäusen und der ungemütlichen Enge im "saublöden Kellerloch". Trotz dieser Unannehmlichkeiten hat Christine anscheinend ausschlafen können, denn der Rest der Hausgemeinschaft ist längst auf den Beinen. Als sie in ihrer Schlafstatt erwacht, ist schon helllichter Tag und Fliegerlärm ertönt aus der Ferne. Neugierig läuft sie zur Kellerluke und steigt auf eine Kiste, um Ausschau nach den erwarteten Soldaten zu halten.
Die hellen Zum Inhalt: Farbtöne der Zum Inhalt: Requisiten (die rote Bettdecke, der gelbe Schlafrock), der sanft anhebende, sphärische Zum Inhalt: Soundtrack sowie die Zum Inhalt: Kameraperspektiven, die fortan Christines Bewegung und ihrer Blickrichtung folgen, verleihen der Szene eine gänzlich unaufgeregte Atmosphäre. Trotz des Fliegerlärms erscheint die Situation nicht bedrohlich. "Lange hab ich auf die Russen gehofft. Weil sich endlich etwas ändern soll", erzählt Christine im Zum Inhalt: Voice-Over. Die letzte, leicht überbelichtete Einstellung der Szene zeigt aus der Untersicht ihren blonden Haarschopf in der Kellerluke, die vom Tageslicht hell Zum Inhalt: erleuchtet wird. Gibt es nach langen Kriegsjahren endlich wieder Licht am Ende des Tunnels?
Die Panik der Erwachsenen
Mit einem harten Zum Inhalt: Schnitt wechselt nun die Szenerie, aber zugleich auch deutlich die Art der Zum Inhalt: Inszenierung. In der Küche haben sich Christines Familie sowie Frau von Braun und ihr Sohn Gerald versammelt. Panisch stürmt die Hausgemeinschaft zum Fenster, als die Bomberflugzeuge direkt über das Haus zu fliegen scheinen: "Die Russen, jetzt san's da!" Der andauernde Fliegerlärm auf der Zum Inhalt: Tonspur und Christines verspätete Ankunft im Schlafrock verweisen darauf, dass zwischen beiden Szenen eine zeitliche Kontinuität besteht.
Im Vergleich zur vorherigen Szene ertönt der Fliegerlärm aber nun lauter und bedrohlicher auf der Tonspur, Kameraschwenks und hektische Bewegungen der Protagonist/-innen bringen Unruhe in die Bilder. Als Christine furchtlos in den Vorgarten läuft – "den Russen entgegen" – und den Zaun hinaufklettert, steigert sich dieser Eindruck noch durch für den Film vergleichsweise schnelle Schnitte und eine Vielzahl an unterschiedlichen Zum Inhalt: Kameraeinstellungen: Bilder aus der Vogelperspektive, die die Schatten der Flugzeuge im Rasen zeigen, Close-Ups der erschrockenen Eltern, Detaileinstellungen von Füßen, Over-the-shoulder-shots von Christine mit Blick in den Himmel. Kaum eine Szene wird in "Maikäfer, flieg!" mit so vielen verschiedenen Einstellungen aufgelöst.
Freier Umgang mit der literarischen Vorlage
Mit dem Fliegerlärm und den filmisch effektvollen Schatten, die die Silhouetten der Flugzeuge auf den Rasen des Vorgartens werfen, entfernt sich der Film bewusst von Zum Inhalt: Nöstlingers Roman. Dort ist es kein Fliegerlärm, sondern ein langer Zug von Pferdewagen, der schon von weitem den Einmarsch der Roten Armee ankündigt. Historisch belegt ist, dass es im März und April 1945 einige Angriffe der sowjetischen Luftwaffe auf Wien und Umgebung gegeben hat – auch wenn die meisten Luftangriffe auf die Stadt von der britischen Royal Air Force und den US Army Air Forces durchgeführt wurden. Dass im Film aber die "Russen", die schließlich Wien von den Nationalsozialisten befreien, zunächst mit Fliegerstaffeln über der Stadt erscheinen, ist kein unbedeutendes Detail. Für Christine, die den Krieg und die Nazis satt hat, schickt sie sprichwörtlich der Himmel – der Furcht ihrer Eltern vor der anrückenden Armee zum Trotz.
Die Dramaturgie der Sequenz
Zwischen der zweiten und dritten Szene der Sequenz liegt eine kurze Zum Inhalt: Ellipse. Der Fliegerlärm ist verstummt, die Mutter hat Christine im Haus frisiert und angezogen und ermahnt sie noch einmal, nicht wieder aus dem Haus zu laufen,"wenn gerade die Russen kommen". Auch hier geht es immer noch um die Erwartung der anrückenden Roten Armee, die Szene bildet also trotz des Zeitsprungs eine Sinneinheit mit den beiden vorigen Szenen. In der Dramaturgie der Sequenz stellt sie ein retardierendes Moment dar: Nach der dynamisch inszenierten Szene mit den Fliegern am Himmel und der Aufregung um Christines Fortlaufen sind die Bewegung im Bild sowie die Schnittfrequenz deutlich reduziert. Halbnahe und totale Einstellungen geben einen Überblick über Zum Inhalt: Schauplatz und Figuren. Auf der Tonspur dominiert der Dialog zwischen Christine und der Mutter, die ihr erklärt, dass sich Mitläufer/-innen wie die Nachbarsfamilie immer ergeben würden, ganz gleich wer da komme.
Ein Moment zum Erinnern
Als Christine plötzlich die zuvor versteckte Uniform des Vaters holen soll, die ihn bei der Ankunft der sowjetischen Armee in Lebensgefahr bringen könnte, setzt Regisseurin Mirjam Unger so markante visuelle Effekte ein, dass die Szene stilistisch aus der Filmerzählung hervorsticht. Nach der ruhigen Dialogszene mit der Mutter scheint die Zeit geradezu stillzustehen, wenn Christine mit der Uniform, die in eine Ausgabe des "Völkischen Beobachters" eingewickelt ist, im Klavierzimmer steht und eine Art Schwindelanfall bekommt. Zum Inhalt: Subjektive Einstellungen und Close-Ups wechseln sich ab: Wie durch ein Kaleidoskop betrachtet, flimmern unscharf die Porträtbilder an der Wand vor ihrem Auge. Der Flur in Richtung Küche scheint, wenn die Kamera langsam auf Christine zufährt, unendlich lang zu sein. In Zum Inhalt: Zeitlupe rennt die Mutter auf sie zu, verzerrt und wie aus der Ferne ruft sie ihren Namen, flackerndes Licht verstärkt den irrealen Eindruck der Szene. Und nur an dieser Stelle setzen im sonst harmonisch elektronischen Score des Films arythmische Störgeräusche ein.
Christine begreift, dass dies der entscheidende Moment ist, ab dem sich ihr bisheriges Leben verändern wird, auch wenn sie die Geschehnisse um sich herum noch nicht ganz verstehen kann. Dies ist der Moment, an den sie sich erinnern wird. Mit dumpfen Schlägen an die Tür des Hauses führt der Film zurück in die reale Situation und in eine neue Sequenz, die die zuvor aufgebaute Spannung einlösen wird: "Die Russen", nun sind sie wirklich da.