Der Zum Inhalt: Kinderfilm hat seit jeher seine eigene Sprache. "Rico, Oskar und die Tieferschatten" ist dafür ein besonders augenfälliges Beispiel. Das liegt auch am Hauptprotagonisten. Rico bezeichnet sich als "tiefbegabt", sein hochbegabter Freund Oskar hält ihn zunächst für "ein bisschen doof". Dabei sieht Rico die Welt nur anders, vor allem anders als die Erwachsenen. Die oft mühsame Ordnung der Dinge offenbart seine subjektive Wahrnehmung, die die Verfilmung der gleichnamigen Zum Inhalt: Buchvorlage zum Vergnügen macht. Autor Andreas Steinhöfel macht schon mit der eigenwilligen Wortschöpfung der "Tiefbegabung" deutlich, wie wenig von einem Schubladendenken in pädagogischen oder medizinischen Kategorien zu halten ist.

Das Kuddelmuddel im Kopf

Rico, Oskar und die Tieferschatten

Universal

Rico dagegen kategorisiert unentwegt. Weil ihm Dinge „manchmal aus dem Kopf fallen“, schreibt er alles auf. Schwierige Begriffe wie "Primzahl" oder "simulieren" schlägt er nach und Zum Inhalt: teilt die Erklärungen mit dem Publikum. Die Pinnwand über seinem Bett, gespickt mit allerhand Alltagsnotizen, visualisiert das Kuddelmuddel in seinem Kopf. Seine detektivischen Fundstücke legt er in einem Karteikasten ab. Eine Änderung gegenüber der Buchvorlage ist ein tragbarer Kassettenrekorder für spontane Einfälle und Worterklärungen. Die Tonaufnahmen enthalten auch Ratschläge der Mutter, etwa die Wegbeschreibung zum Einkaufen. Denn Rico kann eine ganze Menge, zum Beispiel sich vor der eigenen Haustür verlaufen. Auch mit der Unterscheidung von links und rechts hat er nachweislich Probleme.

Im Kreisel durch den Großstadtdschungel

Neben ihrem Wortwitz überzeugt die Verfilmung vor allem durch eine Reihe filmtechnischer Mittel, die Ricos spezifischer Form der Wahrnehmung Rechnung tragen. Die Kamera registriert seine Umwelt, wie in Kinderfilmen üblich, auf Zum Inhalt: kindlicher Augenhöhe. In Momenten von Verwirrung und Orientierungslosigkeit, etwa auf einer gefährlichen Straßenkreuzung, sieht Rico seine nächste Umgebung in einer Fülle von Zum Inhalt: schnell geschnittenen Einstellungen, Zum Inhalt: extremen Nahaufnahmen, Zum Inhalt: Zeitraffereffekten und Zum Inhalt: Kreiselfahrten der Kamera. Wenn er taumelt, taumelt die Kamera mit ihm. Straßenschilder fesseln seinen Blick. Aufgelockert wird diese konsequent Zum Inhalt: subjektive Bildgestaltung durch verspielte Visualisierungen seiner Gedanken, meist in kleinen Zum Inhalt: Animationssequenzen, die sich an den Illustrationen der Buchvorlage orientieren und etwa das Phänomen der "Schwerkraft" auf Rico-typische Weise erklären.

Rico, Oskar und die Tieferschatten, Szene (© 20th Century Fox)

Hinauf in die dritte Dimension!

Größere Zusammenhänge wie die Stadt Berlin mit ihren bekannten Wegmarken (der Fernsehturm am Alex) werden wie auf einem Stadtplan ebenfalls mit schematischen Zeichnungen dargestellt. Für die – in Ricos Fall erschwerte – Orientierung im Großstadtdschungel etabliert Regisseurin Neele Leana Vollmar zusätzlich ein ganzes System von Ober- und Untersichten, das den Stadtraum dreidimensional erfasst: rauf und runter geht es in den berühmten Berliner Stiegenhäusern, an jeder Tür wird geklingelt und rauf aufs Dach! Im letzten Drittel, während der Suche nach dem Kinderentführer Mister 2000, kommen noch Elemente des Gruselfilms wie unheimliche Musik, und die Zum Inhalt: subjektive Kamera hinzu.

Vorbild früher Tonfilm

Emil und die Detektive (1931)

Universal

Nicht von ungefähr erinnern diese Stilmittel an den Stumm- und frühen Tonfilm. Der Vergleich mit Gerhard Lamprechts Zum externen Inhalt: Emil und die Detektive (öffnet im neuen Tab) aus dem Jahr 1931, nach dem Kinderbuch von Erich Kästner, liegt besonders nahe. Ähnlich wie Rico findet sich das Provinzkind Emil in der Großstadt nur schwer zurecht. Die filmische Gestaltung imitiert sein subjektives Empfinden: Nicht nur fährt in einer avantgardistischen Traumsequenz Emils Welt Karussell; zum Großstadtblick gehört auch die systematische Visualisierung von Bahnhofsnamen, Geldbeträgen und kriminalistischen Eckdaten ("Der Feind hat No. 9!"). Das Medium Tonfilm steckte selbst noch in den Kinderschuhen.

Fantasievolle Beschreibung der Wirklichkeit

Die filmischen Mittel legen nahe, Ricos "Andersbegabung" nicht vorschnell als psychische Störung oder gar Behinderung zu deuten. Für den Autor Steinhöfel ist sie vor allem ein literarisches Mittel zur Beschreibung einer komplexen und manchmal auch verwirrenden Wirklichkeit. Damit bewegt er sich in bester Tradition. Erich Kästner schrieb sein berühmtes Kinderbuch als treffende Analyse der Moderne. In deren damaligem Zentrum Berlin zeigten sich die Auswirkungen der Industrialisierung, der technischen Revolution und Automatisierung weiter Lebensbereiche, aber auch die damit einhergehenden sozialen Umwälzungen wie in einem Brennglas. Steinhöfel, der das Buch mit Blick aus dem Fenster auf seine Nachbarschaft schrieb, modernisiert im Grunde denselben Ansatz. Das Fernsehen kommt hinzu, in dem Rico gebannt die neuen Schandtaten von Mister 2000 verfolgt. Und die familiären Verhältnisse erscheinen alles in allem wieder ähnlich prekär wie in "Kuhle Wampe oder: wem gehört die Welt" oder "Mutter Krausens Fahrt ins Glück" , Klassikern des Weimarer Kinos.

Kreative Beschleunigung des Kinderfilms

Im Buch wie im Film "Rico, Oscar und die Tieferschatten" werden diese verwirrenden Eindrücke stets mit einem Augenzwinkern umgesetzt. Ricos spezielle Form der Beobachtung wirkt wie eine Übersteigerung des ohnehin sensiblen Kinderblicks, für den alles neu ist und dem die Verarbeitung der Sinneseindrücke gelegentlich schwerfällt. Alles geht etwas zu schnell, überfordert die kindliche Konzentrationsfähigkeit, und so geht es in Ricos Kopf "manchmal so durcheinander wie in einer Bingotrommel". Diese Wahrnehmung geht einher mit einer Beschleunigung der filmischen Ausdrucksmittel, wie sie wohl typisch ist für kulturelle Modernisierungsschübe – auch oder gerade im Kinderfilm. Doch durch Freundschaft, Einfallsreichtum und Hartnäckigkeit, das zeigt Vollmar anhand ihrer Protagonisten Rico und Oskar, lassen sich auch große Probleme lösen. Ob jemand hoch- oder tiefbegabt ist, spielt dabei gar keine Rolle.