Kategorie: Interview
"Wir erzählen von einer frühen Phase der Globalisierung"
Jon Raymond, Verfasser der Romanvorlage und Co-Drehbuchautor von "First Cow" , spricht über seine Zusammenarbeit mit Regisseurin Kelly Reichardt und seinen Blick auf den Western.
Jon Raymond hat die Drehbücher fast aller Filme von Kelly Reichardt geschrieben. "First Cow" (USA 2019) beruht auf seinem ersten Roman The Half-Life: A Novel (2004). Anlässlich des Kinostarts hat sich kinofenster.de mit ihm über kritische Neudeutungen klassischer Western-Motive unterhalten.
kinofenster.de: Mr. Raymond, Kelly Reichardt hat mehrfach Bücher und Drehbücher von Ihnen verarbeitet. Wie kam es zu dem Roman The Half-Life: A Novel, der Vorlage zu "First Cow" ?
Jon Raymond: Der Roman kam 2004 heraus, es war mein erstes Buch. Ich habe darin zwei Erzählfäden verbunden. In dem einen ging es um Pelzjäger in den 1820er-Jahren und in dem anderen um zwei junge Frauen in den 1980ern, die in einer Kommune in Oregon an dem gleichen Ort leben, an dem der erste Teil der Geschichte spielte. Ich wollte von zwei verschiedenen Freundschaften erzählen und vom Kapitalismus. Die Felle waren eine globale Ware und wurden von Amerika nach Kanton (das heutige Guangzhou) in China verschifft und weiter nach London. Das alles ging vom Columbia River aus, also von der Gegend, in der ich lebe. Unsere Region kommt in den historischen Darstellungen selten vor, ich wollte diese Leerstelle ein wenig füllen.
kinofenster.de: Der Film greift nur einen Teil der Handlung des Romans auf. Was war dafür ausschlaggebend?
Jon Raymond: Kelly arbeitete im Frühling 2018 an einem anderen Zum Inhalt: Drehbuch, bei dem es Schwierigkeiten gab mit der Finanzierung. Die Sache zog sich hin. Sie hatte aber schon eine Crew und sich Zeit freigenommen von ihrem Job an der Uni. Damals kamen wir auf The Half-Life: A Novel zurück. Es ging dann vor allem um praktische Aspekte, denn es kam nur ein Projekt in Frage, das keinen großen Aufwand und keine langen Vorbereitungen erforderte. Der Teil der Geschichte aus dem 19. Jahrhundert spielt vor allem im Wald. Wir hatten die Schauplätze (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set) also mehr oder weniger vor der Haustür. Es ging dann alles ziemlich schnell. Im Herbst haben wir gedreht.
kinofenster.de: Die Begebenheit mit der Kuh ist für den Film so wichtig, dass sogar der Titel darauf verweist. Wie kamen Sie darauf?
Jon Raymond: Cookie, eine der beiden Hauptfiguren, ist ein Koch. Ich habe also darüber nachgedacht, wie wir seine Geschichte stärker machen könnten. Da fiel mir die Geschichte mit der ersten Kuh in dieser Wildnis ein. Eine Kuh ist ein vielseitiges Symbol. Sie steht für eine Extraktionswirtschaft (Anm. d. Red.: eine Wirtschaftsform, die auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen beruht), denn sie produziert einen wertvollen Rohstoff, den die Menschen sich aneignen. Sie ist aber nicht nur eine Ware. Da sind auch diese ganzen mütterlichen Facetten: das Wesen, das Milch gibt.
kinofenster.de: Würden Sie sagen, dass es sich bei "First Cow" um einen Zum Inhalt: Western handelt?
Jon Raymond: Ich würde sagen, wir haben zumindest mit dem Zum Inhalt: Genre geflirtet. Der Film spielt im Nordwesten, also in einer untypischen Gegend. Bei Western denkt man an Monument Valley oder an die trockenen Gegenden im Südwesten. Unser Ort der Handlung ist ein Regenwald. "Dead Man" (USA 1995) von Jim Jarmusch kam auch in diese Gegend, das blieb jedoch eine Ausnahme. Ich habe aber bewusst klassische Western-Szenen eingebaut, zum Beispiel der Sprung von einem Felsen, um sich in höchster Not zu retten. Das war für mich eine Hommage an "Zwei Banditen" ("Butch Cassidy and the Sundance Kid" , George Roy Hill, USA 1969), einen der berühmtesten Western. Paul Newman und Robert Redford springen da gemeinsam in den Abgrund. Darauf spielen wir an. Zugleich aber ist unser Film deutlich ein Gegenwestern.