Bei Großaufnahmen (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen) im Kino kommen einem "magische Momente" mit Stars wie Scarlett Johansson oder George Clooney in den Sinn, romantische oder actionreiche Höhepunkte. Ein Blick zurück in die Filmgeschichte zeigt jedoch, dass Großaufnahmen einst auch Konzepte inspiriert haben, die nicht primär auf Glamour und große Emotionen ausgerichtet waren. Tatsächlich war die Großaufnahme (englisch: close-up) während der Stummfilmära zentraler Gegenstand der frühen Filmtheorie.

Die Großaufnahme als Wesen der Filmkunst

Der ungarische Filmtheoretiker und Autor Béla Balázs nannte sie sogar "das eigenste Gebiet des Films". Im Theater, schrieb er in Der sichtbare Mensch (1924), sei das Gesicht nur ein Element im Ganzen des Dramas. "Auf dem Film aber, wenn sich in der Großaufnahme ein Gesicht auf die ganze Bildfläche ausbreitet, wird […] das Gesicht das Ganze, in dem das Drama enthalten ist." Das Entscheidende gehe im Film nicht aus der Totalen hervor, sondern aus dem Detail, dem Mienenspiel, das wie mit der Lupe sichtbar gemacht werde. Carl Theodor Dreyers Zum Inhalt: Stummfilm "Die Passion der Jungfrau von Orléans" ("La passion de Jeanne d'Arc" , FR 1928), der fast nur Close-ups enthält und in dem Gesichter die eigentlichen Träger der Handlung sind, erscheint wie eine Visualisierung von Balázs' Gedanken.

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Mit Einführung des Tonfilms setzten sich die Prinzipien des Hollywoodkinos für den Einsatz von Close-ups nahezu weltweit durch. Großaufnahmen wurden Teil einer Montagekonvention (Glossar: Zum Inhalt: Montage), die auf einen "unsichtbaren Schnitt" zielt: Nach einem Zum Inhalt: Establishing Shot, der meist einen neuen Schauplatz einführt, werden die handlungsrelevanten Figuren einer Zum Inhalt: Szene anschließend aus größerer Nähe gezeigt; der Schnitt folgt dabei kontinuierlich der Aktion im Bild und sorgt für den Fluss der Erzählung.

In diesem in Grundzügen noch heute angewendeten "continuity system" markierten die Close-ups die emotionalen Höhepunkte – privilegierte Momente, die den Stars vorbehalten waren. Einige Vertreter/-innen des sich ab den 1950er-Jahren formierenden europäischen Autorenkinos (Glossar: Zum Inhalt: Autorenfilm) kritisierten diesen Einsatz von Großaufnahmen als manipulativ; außerhalb des klassischen Erzählkinos setzten sie Großaufnahmen lange Jahre eher selten und oft selbstreflexiv ein. In der Zeit des digitalen Filmschaffens, in der allein die menschliche Mimik für Zum Inhalt: CGI noch eine echte Herausforderung zu bedeuten scheint, stößt das Close-up jedoch bei künstlerisch ambitionierten Filmschaffenden offenbar wieder stärker auf Interesse. Der US-amerikanische Regisseur Barry Jenkins ist ein Beispiel dafür.

Close-ups in "Beale Street" : Intimität und Gegenwärtigkeit

In seiner James-Baldwin-Verfilmung Zum Filmarchiv: "Beale Street" (USA 2018) über ein junges afroamerikanisches Paar in den 1970er-Jahren etabliert Jenkins das Close-up nach wenigen Augenblicken als zentrales Gestaltungsmittel: Eine Großaufnahme zeigt Fonny, bevor Tish und er sich küssen – eine recht typische Situation für ein Close-up. Ungewöhnlich jedoch ist die zeitliche Platzierung in der Zum Inhalt: Exposition des Films. Wir sehen Fonny recht unvermittelt ins Gesicht, das die Kamera frontal und auf Augenhöhe (Glossar: Zum Inhalt: Kameraperspektiven) einfängt. Als Betrachtende werden wir in die Position der Geliebten und Ich-Erzählerin Tish versetzt – ein intimer Blickwinkel, der es erlaubt, in Fonnys Gesichtszügen "zu lesen", und der sich für die weiteren Close-ups des Paares im Film als charakteristisch erweist. Augenscheinlich dient die Großaufnahme hier nicht nur einer emotionalen "Beteiligung" des Publikums. Jenkins nutzt sie auch, um gleich zu Beginn die Nähe des Liebespaares und dessen unbedingtes Vertrauen zueinander zu visualisieren, vor allem aber, um uns von Fonnys Sensibilität und Ernsthaftigkeit zu überzeugen. Tatsächlich erscheint außer Frage, dass der junge Mann die Vergewaltigung, der er beschuldigt wird, begangen haben könnte, auch wenn der Tathergang nicht aufgelöst wird.

Beale Street, Szene (© DCM)

Vor allem den Szenen der Liebenden verleihen die Großaufnahmen eine enorme Gegenwärtigkeit. Das gilt besonders für Tishs Gefängnisbesuche, bei denen Fonny und sie durch eine Glasscheibe getrennt sind. Jenkins inszeniert dies klassisch als Zum Inhalt: Schuss-Gegenschuss-Montage, wobei er durch die Nähe der Kamera, die frontale Perspektive und die geringe Zum Inhalt: Schärfentiefe den räumlichen Kontext der Figuren nahezu aufhebt. Der Fokus der Szenen liegt auf den Emotionen, die sich in den Gesichtern schmerzlich niederschlagen. Die Zum Inhalt: Inszenierung zielt auch darauf ab, bei den Zuschauenden Emotionen zu wecken. Die Tragik des Paares und die rassistische Willkür der Justiz, der die beiden als Schwarze ausgesetzt sind, teilen sich mit großer Eindringlichkeit mit.

Gesichter, die selten so repräsentiert wurden

Eine Zuspitzung findet diese Inszenierung in einer Zum Inhalt: Rückblende, die das vergangene Glück des Liebespaars wachruft: Erneut fängt Jenkins die beiden Schauspieler/-innen, Stephan James und KiKi Layne, in einer Schuss-Gegenschuss-Montage ein, diesmal aber taucht er die Szene in warmes Licht (Glossar: Zum Inhalt: Licht und Lichtgestaltung) und lässt beide direkt in die Kamera schauen. In dem Moment, als sich ihre Blicke auf uns richten, durchbricht der Film die illusionistische Konvention des Kinos, die Zum Inhalt: vierte Wand, und wendet sich direkt an uns. Jenkins schafft so nicht nur einen berührenden Moment, sondern gibt auch ein humanistisches Statement ab: Dadurch, dass er uns, das Publikum, in die Liebesgeschichte miteinbezieht, verleiht er ihr eine Universalität, die über identitätspolitische Zuschreibungen hinausgeht.

Beale Street, Szene (© DCM)

Die Bedeutung der Großaufnahmen ist auch deshalb bemerkenswert, weil Jenkins' Film die Lebenssituation der jungen Schwarzen so aus nächster Nähe und sogar aus der Innensicht zeigt. Er thematisiert weniger den Rassismus der Weißen als die Konsequenzen des systemischen Unrechts für Schwarze in den USA. Zugleich repräsentiert das Ensemble des Films die afroamerikanische Community auf der Leinwand, wie sie im US-Kino lange Zeit nur selten zu sehen war.

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