Barry Jenkins wurde 1979 im US-Bundesstaat Florida geboren und studierte an der Florida State University. Mit seinem zweiten Film Zum Filmarchiv: "Moonlight" (USA 2016), der Geschichte eines Schwarzen schwulen Jungen in seiner Heimatstadt Miami, gewann er den Oscar® und wurde zu einer führenden Figur des Black Cinema. Sein neuer Film Zum Filmarchiv: "Beale Street" basiert auf dem Buch Beale Street Blues (Originaltitel: If Beale Street Could Talk) von James Baldwin (1924–1987). Es ist die erste Zum Inhalt: Adaption eines Romans des afroamerikanischen Schriftstellers und Bürgerrechtlers.

kinofenster.de: Mister Jenkins, der Name James Baldwin erfährt gerade ein Revival. Warum gerade jetzt?

Barry Jenkins: Nun, das Buch erschien vor 45 Jahren, und doch ist vieles darin weiterhin aktuell. Vor allem in Amerika mit dem derzeitigen Slogan "Make America great again!" (von Donald Trumps Präsidentschaftskampagne; Anm. d. Red.). Man schlägt nach bei jemandem wie James Baldwin oder Toni Morrison, bei all diesen brillanten Denkerinnen und Denkern, die buchstäblich dokumentiert haben, wie es damals war, und man sieht: Okay, es war gar nicht so großartig.

kinofenster.de: Sie haben gesagt, durch Baldwin hätten sie begriffen, was es heißt, ein Schwarzer Mann zu sein. Können Sie das ausführen?

Barry Jenkins: Vor Baldwin hatte ich nicht viel gelesen. Die meisten Erzählungen, die ich kannte, handelten von Schwarzen Berühmtheiten. Die Geschichten von Martin Luther King oder Jesse Owens kennt jeder. Baldwin schrieb über ganz normale Leute, dicht und reichhaltig. Was für mich bedeutete: Oh, schwarze Leben zählen (black lives matter). Jemand, der aufwächst wie Chiron (der Protagonist aus Jenkins' Film "Moonlight" ; Anm. d. Red.), ist es wert, mit seiner inneren Stimme gehört zu werden. Mit dieser Kraft hat Baldwin mich erwischt.

kinofenster.de: Ihre Filmadaption "Beale Street" wird wie der Roman aus der Perspektive der Protagonistin erzählt. Wie haben Sie sich Tishs Erzählstimme genähert?

Barry Jenkins: Nichts war wichtiger als die Übersetzung dieser inneren Stimme. Im Buch habe ich den Eindruck, dass Baldwin gelegentlich etwas verrutscht und aus Tishs Worten eigentlich er selbst spricht. Im Film allerdings musste es Tish sein. Wenn also Baldwin wie Baldwin über die Welt redet, wie zum Beispiel in der Zum Inhalt: Sequenz über die Parfümabteilung im Kaufhaus, muss die Erzählung immer noch die Erfahrung eines 19-jährigen Schwarzen Mädchens wiedergeben.

kinofenster.de: Wie "Moonlight" hat auch Ihr neuer Film einen sehr besonderen Look. Wie haben Sie ihn entwickelt?

Barry Jenkins: Für uns spiegeln beide Filme das jeweilige Bewusstsein der Hauptfigur. Der Look von "Moonlight" wird folglich bestimmt von Chiron, der von "Beale Street" von Tish. Sie befindet sich in einer Art Fegefeuer und erinnert sich an die lebendigsten und schönsten Augenblicke ihres Lebens, aber auch an die dunkelsten Erfahrungen. Der Film ist praktisch komponiert aus Erinnerungen. Daher entschieden wir uns für die sehr gesättigten, hellen Farbtöne (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung) für Tish, wenn sie ganz ungetrübt an Dinge zurückdenkt, sowie für eine gedämpfte Farbgebung und düstere Schatten in der Sequenz, in der Fonnys Freund Daniel Carty zu Besuch kommt.

kinofenster.de: Wie kam es zur Verwendung der Schwarz-Weiß-Fotografien?

Barry Jenkins: Unsere visuelle Recherche zum Film bezog sich zum großen Teil nicht auf Kinofilme, sondern auf Fotografien: etwa die Werke von Gordon Parks und Roy DeCarava. In einer Fotoserie von Gordon Parks für das Magazin LIFE, in der er eine Familie in Harlem porträtierte, gibt es ein Foto namens "Ellen Crying" ("Ellen weint"). Beim Schreiben der ersten Drehbuchfassung kam ich zu der Zum Inhalt: Szene, in der Tish von den "Kindern unserer Zeit" erzählt, und ich wollte diese Kinder zeigen, auf eine dokumentarische Art. So kam "Ellen Crying" ins Zum Inhalt: Drehbuch zusammen mit anderen Bildern, die dazu passten. Die zweite Fotostrecke im Film soll andeuten, was mit diesen Kindern geschehen ist. Sie wurden zu den Männern und Frauen, die jetzt gegen das System kämpfen.

kinofenster.de: Warum haben Sie dieses von Baldwins Büchern ausgewählt?

Barry Jenkins: Es ist nicht mein Lieblingsbuch von Baldwin, das wäre Giovanni's Zimmer. Aber ich liebe Beale Street Blues, weil Baldwin mit mehreren Stimmen schrieb. Auf der einen Seite gibt es den Essayisten, der die Ungerechtigkeiten der amerikanischen Gesellschaft aufzeigt sowie die Rolle des Systems bei der Entrechtung und Entmutigung Schwarzer Menschen. Aber seine andere Seite war ihm genauso wichtig: die Sinnlichkeit, die Romantik, seine persönlichen Beziehungen. Und dieses Buch habe ich ausgewählt, weil darin diese zwei Seiten organisch zusammenfinden.

kinofenster.de: Wenn Baldwin also diese zwei Seiten hat, wo sehen Sie sich selbst?

Barry Jenkins: Nun, ich denke, das Buch ist wesentlich bitterer und wütender als der Film. Folglich bin ich wohl mehr auf der Seite der Liebe, der Familie, der Romantik. Aber aus dem Buch lernt man, dass diese zwei Seiten zusammenhängen. Man kann als Schwarzer Mensch nicht in Amerika leben und nicht vom Gesellschaftssystem betroffen sein. Der Punkt des Buchs ist für mich, dass dieses schreckliche Leiden immer Teil Schwarzen Lebens in den USA war, von Anfang an, seit der Sklaverei. Und dann waren da immer auch Familie, Liebe und Gemeinschaft. Das ist die Idee hinter der Beale Street als einem Ort in Memphis, New Orleans, Los Angeles oder Harlem. Baldwin sagt damit letztlich, dass es eben diese Liebe ist, die Schwarzen in Amerika den Aufbau von Gemeinschaften ermöglicht hat.

kinofenster.de: Können Sie sich vorstellen, auch Filme über Weiße zu machen?

Barry Jenkins: Absolut! Vor "Moonlight" hatte ich ein Drehbuch ohne Schwarze Protagonisten. Es war nur über weiße Leute. Aus dem Projekt wurde nichts, vielleicht weil ich weiße Figuren doch nicht so gut schreiben kann wie Schwarze. Wer weiß! Aber um ehrlich zu sein, fühle ich mich eventuell sogar besser geeignet, über Weiße zu schreiben, als der Durchschnittsweiße über Schwarze. Ein Teil der Erklärung wäre, dass wir mit Fernsehen und Filmen aufwachsen, die immer von weißer Erfahrung handeln. In den Medien herrscht die weiße Perspektive vor. Und eine weiße Person trifft nicht jeden Tag jemanden wie Chiron oder Tish. Es gibt einen Mangel an Schwarzen Geschichten. Deshalb fühle ich mich verpflichtet, sie zu erzählen.

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