"Reality"

Am 3. Juni 2017 gegen 15:30 Uhr startet FBI-Agent Garrick eine Aufnahme auf seinem Diktiergerät. Mit seinem Kollegen Taylor und einem Durchsuchungsbefehl wartet er vor einem unscheinbaren Bungalow in Augusta, Georgia (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set). Hier lebt die 25-jährige Reality Winner, die gerade vom Einkaufen nach Hause kommt. Reality ist Air-Force-Veteranin, Teilzeit-Yogalehrerin und arbeitet als Übersetzerin für Persisch und Dari bei einem Dienstleister des US-Geheimdienstes. Als Garrick um 17:17 Uhr die Aufnahme beendet, ist sie auf dem Weg ins Gefängnis, wonach sie schließlich als Whistleblowerin angeklagt und zu fünf Jahren Haft verurteilt wird. Dazwischen liegt ein fast zweistündiges, von den Agenten mit subtiler Freundlichkeit geführtes Verhör: Reality wird beschuldigt, ein geheimes Dokument des Nachrichtendienstes NSA einer Online-Publikation zugespielt zu haben, das die Intervention russischer Hacker im US-Wahlkampf belegt. Beinahe in Echtzeit zeichnet der Film das Verhör nach: Was hat Reality getan? War sie sich der Tragweite ihrer Handlungen bewusst? Was hat sie motiviert?

Regisseurin Tina Satter adaptiert (Glossar: Zum Inhalt: Adaption) mit ihrem Film "Reality" ihr eigenes Theaterstück Is This a Room? von 2021. Dessen Dialoge stammen wiederum aus der originalen Audioaufnahme des Verhörs der Whistleblowerin Reality Winner, die 2017 festgenommen wurde. Der Filmtitel bezieht sich also nicht nur auf den ungewöhnlichen Namen seiner Protagonistin; der Umgang mit der Wirklichkeit zieht sich auch als zentrales Thema durch den Film. Immer wieder erinnern dokumentarische (Glossar: Zum Inhalt: Dokumentarfilm) Schnipsel – die Wellenform der Audioaufnahme, Textausschnitte aus der Ermittlungsakte – an die Authentizität des Quellenmaterials. Gleichzeitig nutzt Satter Verfremdungseffekte: Schwärzungen in der Ermittlungsakte übersetzt sie beispielsweise in ein kurzzeitiges Flackern und Verschwinden der Figuren. Wie in einem psychologischen Zum Inhalt: Thriller werden die Schichten der Wahrheit nach und nach zurückgeschält. Ein dissonanter Score (Glossar: Zum Inhalt: Filmmusik) wummert dabei unterschwellig, aber fast konstant im Hintergrund der Dialoge. Die Machtverhältnisse der Verhörsituation spiegeln sich in der Positionierung der Figuren und der Kamera: Reality wird meist aus Obersicht (Glossar: Zum Inhalt: Kameraperspektiven) und gegen eine Wand gedrängt gefilmt, die FBI-Agenten von unten. Obwohl das Ende von Beginn an feststeht, baut der Film eine unheimliche, beklemmende Spannung (Glossar: Zum Inhalt: Suspense) auf.

Im Politik- und Sozialkundeunterricht können die Schüler/-innen sich vorab mit dem echten Whistleblowing-Fall beschäftigen, auf dem der Film basiert. Dabei spielt auch eine kritische Betrachtung der medialen Berichterstattung eine Rolle: Reality Winner wurde nach ihrer Festnahme zum Zentrum eines Medienwirbels, der in vielerlei Hinsicht die Substanz ihrer Enthüllungen überschattete. Konservative Kommentatoren stigmatisierten sie als Staatsverräterin und – aufgrund ihres Interesses für afghanische Sprachen und Kultur – als Taliban-Sympathisantin; Liberale hielten sie als Opfer der unsauberen journalistischen Arbeit der publizistischen Website The Intercept hoch, die ihre Enthüllungen veröffentlichte. Gelingt es dem Film, ein authentischeres, komplexeres Bild von Reality zu vermitteln? Welches Ziel verfolgt er? Im Deutschunterricht lassen sich Parallelen zum dokumentarischen Theater ziehen. So kann im Hinblick auf die filmsprachlichen Mittel das Verhältnis von Zum Inhalt: Inszenierung und Realität im Film erörtert werden, sowie die unterschiedlichen Möglichkeiten und Grenzen der Inszenierung im Kino und auf der Bühne.