Kategorie: Filmbesprechung
"Three Minutes – A Lengthening"
Three Minutes: A Lengthening
Dokumentarfilm auf Basis von Amateuraufnahmen einer jüdisch geprägten polnischen Stadt im Jahr 1938
Unterrichtsfächer
Thema
Es sind nur etwas mehr als drei Minuten Filmmaterial, unbeschwerte Alltagsszenen: viele fröhliche Menschen, dicht gedrängt auf einem Platz, auf Straßen, aus einem Gebäude strömend. Eine Frau tritt aus einem Laden, der Kamerablick geht in ein vollbesetztes Kaffeehaus, Leute schauen durch das Fenster in den Gastraum. Kinder drängen sich vor die Kamera, winken aufgeregt in die Linse. Wir verstehen schnell, dass dieser Apparat hier etwas Ungewöhnliches ist, eine kleine Sensation. Schnelle, willkürlich wirkende Schnitte (Glossar: Zum Inhalt: Montage), ziellos erscheinende Schwenks (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen). Wer hat diese offenbar viele Jahrzehnte alten, grobkörnigen Bilder gedreht? Wer sind die Menschen in den überwiegend in Farbe, teils aber auch in Schwarzweiß gefilmten dokumentarischen Aufnahmen?
Eine Filmrolle aus dem Nachlass des jüdischen Großvaters
Im Jahre 2009 fand Glenn Kurtz im Elternhaus in Florida diese Filmrolle seines verstorbenen jüdischen Großvaters David Kurtz, der sie so beschriftet hatte: "Our Trip To Holland, Belgium, Poland, Switzerland, France and England 1938". Der Amateurfilm zeigt zufällige Begegnungen auf einer Urlaubsreise. Der Enkel ahnte, dass er auf ein Zeugnis ausgelöschten jüdischen Lebens gestoßen war. Es war ein kostbarer Fund "in letzter Sekunde", nur wenige Wochen später wäre das bereits stark angegriffene Material für immer verfallen. Kurtz übergab die Aufnahmen dem United States Holocaust Museum in Washington, das eine restaurierte Fassung auf seine Website stellte. Dort sah die niederländische Regisseurin Bianca Stigter die wenigen Minuten und nahm Kontakt zu Kurtz auf. Stigter ist die Ehefrau des britischen Regisseurs und Oscarpreisträgers Steve McQueen, war als Produzentin an seinen Zum Inhalt: Spielfilmen beteiligt und ist die Autorin seines Zum Inhalt: Dokumentarfilms "Occupied City" (UK/NL/USA 2003) über das von den Nazis besetzte Amsterdam. Mit Glenn Kurtz hat sie aus dem dreiminütigem Filmdokument einen klugen und sehr berührenden Filmessay geschaffen, eine Verlängerung der kurzen aufgenommenen Zeit, "A Lengthening" wie es im Originaltitel heißt.
"Three Minutes" arbeitet, bis auf ein 3D-Modell des Zum Inhalt: Drehortes, ausschließlich mit dem Ausgangsmaterial, verdichtet und verfremdet die Aufnahmen, fährt vor und zurück, hebt Gesichter und Menschengruppen heraus, hält den Film an. Unter Bilder des Marktplatzes legt Stigter Geräusche (Glossar: Zum Inhalt: Tongestaltung-Sound Design) aus der heutigen polnischen Kleinstadt Nasielsk, die als Aufnahmeort identifiziert werden konnte und in der nichts an die ermordeten Juden erinnerte. Sie verlängert nicht nur die Aufnahmen auf 69 Minuten, also auf die Länge ihres Films, sondern gibt diesen ausgelöschten Leben, den verdrängten Erinnerungen einen filmischen Raum des Gedenkens. Etwa 150 Menschen sind im Film zu sehen, sieben von ihnen konnten erkannt und zugeordnet werden.
Der Anonymität entrissen
Es ist beeindruckend, was Bianca Stigter und Glenn Kurtz, der auch ein Buch über diese Forschungen geschrieben hat, herausgefunden haben. "Der Film bewahrt Details, aber nicht unbedingt Wissen", sagt sie über ihr Ausgangsmaterial. Dieses verschüttete Wissen wurde mit geradezu kriminalistischer Detailarbeit freigelegt, angefangen beim Schauplatz. Das große Gebäude aus dem viele Besucherinnen und Besucher im Film kommen, wurde als Synagoge ausgemacht, durch die charakteristischen geschnitzten Löwen an den hölzernen Flügeltüren. Für uns Zuschauerinnen und Zuschauer ordnet sich irgendwann die Masse der Menschen. In der permanenten, variantenreichen Präsentation des Materials werden viele Gesichter zu wiedererkennbaren Vertrauten, der Anonymität mit diesen wenigen Filmmetern entrissen.
Der in die USA ausgewanderte David Kurtz hatte seine alte Heimatstadt nördlich von Warschau am 4. August 1938 auf seiner Europatour besucht und diese Aufnahmen gemacht. Etwa 7000 Menschen lebten damals dort, davon 3000 Jüdinnen und Juden, die fast alle im nationalsozialistischen Vernichtungslager Treblinka ermordet wurden. Nur rund 100 von ihnen überlebten die Shoah. Der Leidensweg der jüdischen Menschen aus Nasielsk von den Deportationen in die Ghettos der umliegenden Städte bis zur Ermordung, die Demütigungen und Misshandlungen wurden sehr genau im geheimen Ringelblum-Archiv beschrieben. Diese Berichte sind im Film als erschütternde Zeugnisse der Vernichtung zu hören. Aber auch Überlebende wie Maurice Chandler, der sich wiedererkannte, kommen unter den Bildern zu Wort, damals ein lebenslustiger Junge, aufgehoben in der Gemeinschaft seiner Gemeinde, glücklich und sorglos wie Kinder sein sollten. Ein Jahr später brach mit dem deutschen Überfall auf Polen das Grauen über die kleine Stadt herein.
"Three Minutes" macht eine furchtbare Leerstelle sichtbar
Bianca Stigters Film weist durch seinen produktiven Umgang mit den Bildern weit über den konkreten Ort hinaus und wird zu einem Nachdenken über die Wirkungsmacht historischer Aufnahmen überhaupt. An diesem sonnigen Vormittag im Sommer 1938 – die Länge der Schatten im Film verweist auf die Uhrzeit, es mag etwa elf gewesen sein – spüren wir etwas, das in den unbeschwerten Bildern gar nicht zu finden ist. Die wenigen Überlebenden erinnern sich an ihr untergegangenes Leben, den Tod ihrer Familien und von Freunden, sie sehen mehr als die Bilder zeigen. Und auch wir alle sehen sie mit dem Wissen um die vollständige Auslöschung dieser Welt. In der Anwesenheit der Menschen erkennen wir zugleich ihre Abwesenheit, wie es im Film heißt. Es ist das große Verdienst von "Three Minutes – A Lengthening" diese furchtbare Leerstelle sichtbar zu machen, die in Vergessenheit zu geraten droht.
Hier finden Sie den Zum Inhalt: "Wir sehen Bilder von einem Vorher"Podcast mit Filmwissenschaftlerin Lea Wohl von Haselberg, Zum Inhalt:
Weiterführende Links
- External Link bpb-Mediathek: Link zum kostenfreien Stream des Films
- External Link bpb.de: Gerettete Geschichten: Elf jüdische Familien im 20. Jahrhundert (Dossier)
- External Link bpb.de: Europäisches Judentum vor dem Nationalsozialismus
- External Link bpb-Mediathek: Dokumentarfilm über NS-Propaganda-Aufnahmen aus dem Warschauer Ghetto
- External Link bpb.de: Das Ringelblum-Archiv