Als Soldaten und Soldatinnen der 60. Armee der 1. Ukrainischen Front der Sowjetunion am 27. Januar 1945 das Vernichtungslager Auschwitz erreichten, fanden sie eine Tötungsstätte im Zustand der Auflösung vor: gesprengte Krematorien, alleingelassene, lebensgefährlich geschwächte Insassen und Insassinnen, hektisch geräumte Büros. Die Mörder und Mörderinnen flüchteten nach Westen, auf Todesmärschen trieben sie Gefangene vor sich her, die sie auch in den letzten Wochen des Kriegs noch in ihrer Gewalt behalten wollten. In Auschwitz – wie auch in anderen NS-Lagern – entstanden in diesen Tagen der Befreiung auch Bilder, die bis heute die Erinnerung an das Menschheitsverbrechen prägen. Diese Bilder waren allerdings von Anfang an durch einen Widerspruch charakterisiert: Sie kamen zu spät, und zwar in einem doppelten Sinn. Sie konnten nur noch aufnehmen, was die Täter und Täterinnen zurückgelassen hatten, und sie konnten nicht mehr dazu beitragen, dem Verbrechen Einhalt zu gebieten. Sie konnten nur noch nachträglich dokumentieren.

Das nationalsozialistische Regime hatte sich bei seinem Versuch eines Genozids an den Juden in Europa um größtmögliche Geheimhaltung bemüht. Zwar war es nicht möglich, Nachrichten und Gerüchte über das Ziel der Deportationen, die aus vielen Ländern Europas stattfanden, vollständig zu unterdrücken. Aber bis heute diskutieren die Historiker und Historikerinnen darüber, was die Welt in den Jahren 1941 bis 1945 von den Geschehnissen vor allem auf dem Territorium der heutigen Staaten Polen, Ukraine und Weißrussland hätte wissen können, ja müssen. Die behauptete Unsichtbarkeit der Shoah wurde zu einem wichtigen Topos in der Vergangenheitsbewältigung, also bei den Bemühungen der betroffenen Staaten und Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg, das Leid und die Schuld zu verarbeiten und zu sühnen.

Dichterische Reflexion

Schon das bedeutendste frühe Dokument in diesem Zusammenhang war von dieser Spannung zwischen dem Darstellbaren und dem Unvorstellbaren geprägt: Zum Filmarchiv: "Nacht und Nebel" (FR 1955). Der französische Filmemacher Alain Resnais hatte den Auftrag bekommen, einen Film über die Vernichtungslager zu machen. Ihm zur Seite stand die Historikerin Olga Wormser, die 1946 bereits zum ersten Mal nach Polen gereist war und nach ihrer Rückkehr einen ersten Appell veröffentlichte, sich den Tatsachen von "Gaskammern, Selektion, Folter" zu stellen: "Ja, man muss immer noch davon sprechen, ehe die Kornblumen von Auschwitz (ebenso blau wie in den Getreidefeldern Frankreichs) die ganze menschliche Asche absorbiert haben, aus der sie sprießen."

"Nacht und Nebel" (Regie: Alain Resnais, Frankreich 1955)

picture-alliance / Mary Evans Picture Library

Schon bei Wormser, die aus einer jüdischen Familie aus der Ukraine stammte, deutet sich an, wie sich in den Jahren nach dem Krieg erst ganz allmählich die Landkarte der nationalsozialistischen Gewalt zusammensetzte. Allein das später zur Chiffre gewordene Auschwitz war ein heterogener Lagerkomplex, in der 1955 einzelne Bereiche dem Verfall überlassen waren, während die polnischen Behörden an anderen Stellen gerade mit der Errichtung musealer Infrastrukturen beschäftigt waren. Dies war die Situation, in der Resnais mit seinem Team zu Dreharbeiten kam, im benachbarten Birkenau (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set) fanden sie eine "Deponie der Erinnerung" (Thierry Jonquet) vor. In Majdanek wurde schließlich jene "von Fingernägeln gefurchte Decke“ aus Beton gefilmt, in der Jean Cayrol in seinem Sprechkommentar (Glossar: Zum Inhalt: Voiceover) ein Bild für die Todesnot der Opfer sehen wollte. Der französische Schriftsteller hatte Zwangsarbeit und Lagerhaft im oberösterreichischen Mauthausen/Gusen überlebt und seine Erfahrungen dichterisch reflektiert. Auf dieser Grundlage entstand schließlich sein Text zu dem Film "Nacht und Nebel" . In der bundesdeutschen Version trat an seine Stelle ebenfalls ein Dichter: Paul Celan.

In jedem Fall ergaben die von Resnais aufgenommenen Farbbilder (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung) von Orten, denen die schreckliche Vergangenheit nicht mehr sofort anzusehen ist, eine wesentliche Ebene des Films. Sie stehen in einer Spannung zu den Archivbildern in Schwarz-Weiß, mit denen Resnais die Vernichtung zu dokumentieren versuchte: Viele dieser Bilder von Deportationen und Lageralltag, aber auch von Bergen ausgemergelter Leichen und angehäuften Raubgütern sind heute in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Resnais ging sogar so weit, Material aus Leni Riefenstahls "Triumph des Willens" (1935) zu verwenden. Damit schuf er einen Präzedenzfall für viele künftige Montagefilme, die das zunehmend erschlossene Archivmaterial (Glossar: Zum Inhalt: Found Footage) nutzten. Dass die Nazis selbst ein Bilderverbot über den Bereich der "Menschenschlachthäuser" (Olga Wormser) verhängt hatten, ließ die wenigen trotzdem zustande gekommenen fotografischen Zeugnisse auf eine prekäre Weise kostbar werden – schon Resnais lagen die vier Fotografien vor, die Mitglieder des Sonderkommandos in Birkenau heimlich von der Verbrennung der Leichen der in der Gaskammer Ermordeten aufgenommen hatten. Er verwandte sie seinerzeit nicht.

"Nacht und Nebel" wurde erst allmählich zu einem der Schlüsselfilme über die Shoah. Er traf anfangs auf eine Stimmungslage, die für eine Aufarbeitung dieser Geschehnisse noch nicht bereit zu sein schien. Anlässlich der geplanten Uraufführung 1956 im Wettbewerb des Filmfestivals in Cannes intervenierte die bundesdeutsche Botschaft in Paris, was zu einer öffentlichen Kontroverse führte. Letztlich wurde der Film außerhalb des Wettbewerbs gezeigt und erregte tiefe Betroffenheit. Vor allem in Frankreich und Deutschland spielt "Nacht und Nebel" seither eine wesentliche Rolle in der Gedenkkultur. In der Bundesrepublik wird der Film seit Ende 1956 von staatlicher Seite vertrieben und auch an Schulen gezeigt.

Gebrochene Erinnerung

Zwanzig Jahre nach Alain Resnais begann Claude Lanzmann mit den Aufnahmen zu einem Werk, das 1985 unter dem Titel Zum Filmarchiv: "Shoah" herauskam. Dieser fast zehnstündige Zum Inhalt: Dokumentarfilm gilt heute als der Mittelpunkt aller filmischen Beschäftigungen mit der Shoah - neben seinem enormen historiografischen Wert hat Lanzmanns Meisterwerk auch den Status einer Instanz bekommen. Es gab das Prinzip vor, das der Filmemacher fortan auch als streitbarer Intellektueller und Polemiker vertrat: Von der Vernichtung gibt es keine Bilder, es gibt nur die Erinnerungen der wenigen Überlebenden, Zeugen und Zeuginnen und die heutigen Landschaften, in denen die Spuren der Vergangenheit zu suchen sind.

Lanzmann sammelte Zeugnisse von Menschen, die dem Tod entkommen waren, und ließ sie, auch unter größter Anspannung, für die vielen Toten sprechen: "We have to do it, you know it", insistiert er gegenüber Abraham Bomba, der in Treblinka den nackten Frauen vor der Tür der Gaskammern die Haare schneiden musste. Bomba erzählt anfangs ruhig und gefasst, während er einem Mann die Haare schneidet, doch bald kann er nicht mehr weitersprechen.

"Shoah" (Regie: Claude Lanzmann, Frankreich 1985)

picture alliance / United Archives

Diese Schlüsselszene von "Shoah" rührt an das Innerste des Films: Es handelt sich um einen Versuch, einer Erinnerung einen Ausdruck zu geben, die eigentlich blockiert ist, weil das Trauma, das ihr zugrunde liegt, nicht zu überwinden ist. Lanzmann hat "Shoah" später noch durch weitere Filme über die NS-Vernichtungslager ergänzt, vor allem durch einen Film über den Aufstand in Sobibor 1943, aber an der Prämisse seiner Arbeit hat er nie etwas geändert: Von Auschwitz (der Name steht stellvertretend für die industrielle Massenvernichtung der europäischen Juden) gibt es keine Bilder, schon gar keine fiktionalen. Was wir von Auschwitz wissen, wissen wir nur durch die gebrochene Erinnerung der Wenigen, die diesem Ort entkamen.

"Shoah" kam zu einem Zeitpunkt heraus, als in der Bundesrepublik Deutschland die Vergangenheitsbewältigung in eine besonders intensive Phase trat. Zwar hatte das Thema in den 1960er-Jahren mit den Auschwitz-Prozessen schon viel Aufmerksamkeit erhalten und war ein maßgeblicher Auslöser der 68er-Bewegung. Doch setzte eine Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft am 8. Mai 1985 neue Maßstäbe, indem sie die Notwendigkeit einer Kultur der Erinnerung betonte. Bald darauf begann unter Intellektuellen, Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen der später sogenannte Historikerstreit, in dem es um die Frage der Singularität der NS-Verbrechen ging.

Claude Lanzmann wollte dieser Beispiellosigkeit mit "Shoah" einen angemessenen Ausdruck verleihen. Diesem Verständnis nach erscheint es nur folgerichtig, dass er sich 1993 deutlich gegen Steven Spielbergs Zum Inhalt: Schindlers Liste (Schindler's List, USA 1993) aussprach, einen Zum Inhalt: Spielfilm, der zwar auf Tatsachen beruht, aber mit den Mitteln des Erzählkinos arbeitet, um die Shoah ins Bild zu setzen. Dass Spielberg seine Schauspieler und Schauspielerinnen in einer Zum Inhalt: Szene in einer (vermeintlichen) Gaskammer zeigt, um wie in einem Zum Inhalt: Thriller einen Spanunngspunkt zu setzen, war für Lanzmann nicht weniger als ein Skandal.

Mit der 1994 gegründeten Shoah Foundation, die Zeugnisse von Überlebenden sammelt, verfolgt Spielberg seither allerdings im Grunde die gleichen Ziele wie Lanzmann. Neuere Filme wie Zum Filmarchiv: "Das Leben ist schön" ("La vita è bella" , IT 1997) von Roberto Benigni, "Son of Saul" ("Saul fia" , HU 2015) von László Nemes oder zuletzt Zum Filmarchiv: "JoJo Rabbit" (USA 2019) von Taika Waititi zeigen jedoch, dass die Spannung zwischen der Undarstellbarkeit singulären Leids und dem menschlichen Bedürfnis nach Empathie und Imagination letztendlich nicht in eine Richtung aufzulösen ist.

Wichtiger Hinweis:

Zitierte Quelle: Sylvie Lindeperg: Nacht und Nebel. Ein Film in der Geschichte, Berlin 2010

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