Ein Blick auf eine ausgelöschte Welt: Drei Minuten Amateuraufnahmen einer jüdisch geprägten polnischen Kleinstadt im Jahr 1938 – aus diesem einzigartigen Filmmaterial arrangierte Bianca Stigter den vielschichtigen knapp 70-minütigen Zum Inhalt: Dokumentarfilm Zum Filmarchiv: "Three Minutes – A Lenghtening". kinofenster.de hat mit der Filmwissenschaftlerin und Co-Leiterin des Jüdischen Filmfestival Berlin Brandenburg Lea Wohl von Haselberg darüber gesprochen, was den Film zu einer außergewöhnlichen und wertvollen Seherfahrung macht.

Unter dem Podcast finden Sie das Gespräch auch in schriftlicher Form. Der Text weicht von der Hörfassung leicht ab.

Interview mit Lea Wohl von Haselberg (© kinofenster.de 2024)

kinofenster.de: Ich bin jetzt zum Gespräch verabredet über diesen eindrucksvollen Film "Drei Minuten" mit Lea Wohl von Haselberg. Sie ist Filmwissenschaftlerin, aber auch eine der Kurator/-innen des Jüdischen Filmfestival Berlin Brandenburg – und auch mit diesen Themen, natürlich mit diesem Film sehr vertraut. Lea, ich wüsste zunächst erstmal gern, so ganz allgemein, den Eindruck: Sie haben den Film ja auch schon Leuten gezeigt, an der Universität darüber gesprochen. Wenn man diesen doch sehr kurzen, ungewöhnlichen Film sieht, was löst das für einen ersten Eindruck aus?

Lea Wohl von Haselberg: Ich glaube, der [Film] löst in erster Linie wirklich eine große Betroffenheit aus. Wenn man knapp 70 Minuten mit den Gesichtern von Menschen konfrontiert ist, wo man weiß, die sind fast alle ermordet worden danach. Und diese Gewalt und diese Auslöschung dieser Leben und dieser Gesichter, die wir in diesen Bildern sehen – die sehen wir ja nicht im Bild, die passiert in unseren Köpfen. Aber wir wissen, dass diese Menschen kurz danach schon nicht mehr leben. Und das ist das eigentliche Grauen, was, glaube ich, nach dem Film erstmal so eine Stille auslöst.

kinofenster.de: Und der Film hat natürlich auch einen ganz merkwürdigen Effekt dadurch, dass man diese drei Minuten immer wieder sieht. In unterschiedlichen Geschwindigkeiten, unterschiedlichen Perspektiven werden einem die Gesichter ja auch vertraut. Man sieht sie am Anfang, und am Schluss hat man das Gefühl diese Menschen auch wirklich zu kennen – man erkennt sie wieder. Also das ist wahrscheinlich auch so beabsichtigt.

Lea Wohl von Haselberg: Ja genau. Also das ist im Endeffekt das, was der Film macht. Es ist quasi eine Zerdehnung dieser drei Minuten. Er zerdehnt diese nur drei Minuten durch Großaufnahmen, Wiederholungen, Schleifen und lässt uns quasi das machen, was wir oft, wenn wir Found Footage, also Archivbilder, sehen, genau nicht tun – nämlich genau hinzuschauen: Was sehen wir eigentlich genau? Was ist im Bild zu sehen? Aus welcher Perspektive sehen wir eigentlich diese alten Bilder? Und da gucken wir 70 Minuten lang auf drei Minuten …

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