Frankfurt am Main, 1963. Eva Bruhns steht vor ihrer Verlobung mit dem wohlhabenden Jürgen Schoormann, als die junge Dolmetscherin für polnische Sprache für einen Strafprozess engagiert wird: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik werden ehemalige SS-Angehörige vor Gericht angeklagt, im Vernichtungslager Auschwitz gemordet oder Beihilfe zum Mord geleistet zu haben. Eva hat nie von Auschwitz gehört. In aller Eile erweitert sie ihren Wortschatz um Vokabeln wie "Erschießung", "Vergasung" oder "Krematorium". Für den idealistischen David Miller, ein Vertreter der Anklage, ist sie nur eines dieser "deutschen Fräuleins", die vor den Schrecken der Judenvernichtung die Augen verschließen. Nichts gesehen, nichts gewusst – so entlasten sich nicht nur die Angeklagten vor Gericht, sondern nahezu alle Bürger/-innen der Nachkriegsgesellschaft. Das Ausmaß der deutschen Schuld, aber auch der Verdrängung wird der Protagonistin erst nach und nach bewusst.

Geschichte im Kino

Mit der Geschichte der Frankfurter Auschwitz-Prozesse haben sich vor "Deutsches Haus" , verfilmt nach dem Roman (Glossar: Zum Inhalt: Adaption) von Showrunnerin und Drehbuchautorin Annette Hess, mehrere Kinofilme befasst: Von Zum Filmarchiv: "Im Labyrinth des Schweigens" (Giulio Ricciarelli, DE 2014) und Zum Filmarchiv: "Der Staat gegen Fritz Bauer" (Lars Kraume, DE 2015) unterscheidet sich die von Disney produzierte TV-Serie durch eine ungewöhnliche Perspektive: Die – fiktive – Dolmetscherin Eva ist klare Nebenfigur in einem juristischen Verfahren, das als Wendepunkt in der Aufarbeitung der NS-Verbrechen in die Geschichte eingehen wird. Über ihre vermittelnde Rolle erhält gerade ein junges Publikum, möglicherweise wie Eva ohne historisches Vorwissen, Zugang zum Thema (wobei hier explizit die westdeutsche Perspektive vermittelt wird, die Aufarbeitung des Holocaust in der DDR stand unter ganz anderen Vorzeichen). So wie sich die Hauptfigur der Serie immer stärker mit ihrer Aufgabe vor Gericht identifiziert, lernt auch das Publikum die Notwendigkeit dieser Auseinandersetzung zu begreifen. Die Stimmen der polnischen Zeug/-innen der Opferseite, für die Eva übersetzt, müssen gehört, die Täter zur Verantwortung gezogen werden.

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Eine Familie aus Deutschland

Wie tief das Schweigen über die Massenmorde reicht, erlebt Eva in der eigenen Familie. Nicht umsonst heißt die Gastwirtschaft ihrer Eltern "Deutsches Haus" – der Titel der Serie. Evas mögliche Heirat mit dem Versandhauserben Jürgen ist das Thema bei den Bruhns. Vater und Mutter sehen darin die Anerkennung eines Lebens harter Arbeit. Für die Vergangenheit ist da kein Platz. Wenn das Radio über den Prozess berichtet, schaltet der Vater ab. Sie lieben ihre Tochter, wollen aber von ihrer neuen Arbeit nichts wissen. "Immer die brauen Stellen auf den Kartoffeln", brüllt der Vater in einem verzweifelten Moment in der Küche. Ähnlich geht es Jürgen, aber aus anderen Gründen: Er kündigt Evas Anstellung, weil seine Ehefrau nach damaliger Sitte nicht berufstätig sein soll. Die Wahrung der bürgerlichen Fassade, so der unverkennbare Subtext, geht über alles. Das Epochenjahr 1968 scheint noch weit weg, gesellschaftlich herrscht im Wirtschaftswunderland muffige Enge. Früh gesetzte Hinweise nähren in Eva allerdings den Verdacht, dass sich hinter der Schlussstrichmentalität ihrer Eltern ein tieferes Geheimnis verbirgt. Waren sie in die Verbrechen verwickelt?

Täter und Opfer vor Gericht

Der Umgang mit Schuld ist der rote Faden der fünf Episoden. In Worten verhandelt wird sie im Prozess, dessen markante Zum Inhalt: Inszenierung die konventionelle Erzählung durchbricht. Für die jüdischen Opfer ist der Gang vor Gericht eine Extremsituation, die traumatische Erinnerungen wachrüttelt und von der Zum Inhalt: Regie durch filmsprachliche Besonderheiten wie Zum Inhalt: Überblendungen, lange Zum Inhalt: Plansequenzen und Zum Inhalt: Zeitlupen betont wird. Die angeklagten NS-Täter streiten jede Verantwortung ab. Zwar werden einzelne, wie der gefürchtete Folterer Boger im Umgang mit seiner Familie, durchaus als komplexe Figuren gezeichnet. Doch alle betrachten das "Wühlen" in der Vergangenheit als Anmaßung. Schließlich hätten sie "im Krieg" nur Befehle ausgeführt. Zu dieser eiskalten Verteidigungsstrategie gehört es auch, die jüdischen Opfer der "bezahlten" Lüge zu bezichtigen. Entsetzt erlebt Eva, wie das Gift nationalsozialistischen Denkens fortwirkt.

Sittenbild der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft

"Deutsches Haus" weitet diesen Blick auf die ganze Gesellschaft. Denn an nahezu allen Schauplätzen (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set)der Serie begegnen jüdische Opfer dem Volk der Täter – in den Hotels der Stadt, in der Gaststätte der Bruhns, selbst im Schlafzimmer einer Prostituierten. Den gelben Stern, den die Überlebende Rachel Cohn demonstrativ auf dem Weihnachtsmarkt trägt, muss sie auf Geheiß der Polizei abnehmen. In ihrem Hotel – sie erhält eine dunkle Kammer, der Hauptangeklagte Mulka in einem besseren Hotel eine Suite – lästert man nach altem antisemitischen Muster über die Juden, die sich ihr Unglück doch selbst zuzuschreiben hätten. So entsteht ein Sittenbild der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft, das den bleiernen Komplex aus Schweigen, Verdrängung und Behauptung bürgerlicher Anständigkeit plastisch vor Augen führt.

Fakten und Fiktion

Diese Verdichtung historischer Wahrheit überzeugt nicht in jedem Detail. Sehr frei wird hier der reale Prozess als Stoff genutzt und keinesfalls historisch rekonstruiert. So durften in der Realität als Zeugen der Verteidigung, die sich hier auf einen besonders durchtriebenen Anwalt für das gute Dutzend von Angeklagten reduziert, auch ehemalige SS-Mitglieder auftreten. Der Übersetzung bedurften überdies auch Zeugen/-innen aus weiteren Ländern wie der Tschechoslowakei oder Rumänien. Fragen lässt sich auch, ob die von Autorin Hess schon in der ZDF-Serie "Kudamm 56-63" erprobte Verknüpfung von Zeit- und persönlicher Emanzipationsgeschichte vom Kern der Geschichte ablenkt. Aber in verblüffend starken Zum Inhalt: Szenen wird nicht nur die Schwere der nationalsozialistischen Verbrechen verdeutlicht, sondern auch an die Verantwortung der Nachfolgegenerationen appelliert. Die Leiden der Opfer lassen sich kaum übersetzen. Doch die Erinnerung daran wird gebraucht, um auch die Konfliktlinien der Gegenwart besser zu verstehen.

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