Kategorie: Interview
"Fassbinder-Filme fordern Konzentration auf die Bildgestaltung"
Ein Gespräch mit Christine Kopf und Hans-Peter Reichmann vom Deutschen Filminstitut & Filmmuseum in Frankfurt am Main (DFF) über Rainer Werner Fassbinder und Filmvermittlung.
Am 31. Mai wäre Rainer Werner Fassbinder 75 Jahre alt geworden. In welcher Form wird sein Werk anlässlich des Jubiläums – trotz der Einschränkungen durch die Coronavirus-Pandemie – gewürdigt?
Hans-Peter Reichmann: Wir hatten eine Geburtstagsfeier für Fassbinder geplant: Ein Wochenende mit Gesprächen, Filmvorführungen und Party. Als besonderes Event sollte in einer "Marathon-Vorführung" die von der Fassbinder Foundation restaurierte TV-Serie "Acht Stunden sind kein Tag" (1972/73) präsentiert werden (dies soll später im Jahr nachgeholt werden, Anm. d. Red.). In dieser Form kann die Veranstaltung derzeit nicht stattfinden. Stattdessen gibt es eine virtuelle Führung durch die Archivräume des Fassbinder-Nachlasses und ein Livestream-Gespräch mit Juliane Lorenz-Wehling, der Präsidentin der Fassbinder Foundation, über Fassbinder und Frankfurt. Dazu können Follower unserer Social-Media-Kanäle vorab Fragen stellen oder eigene Erlebnisse mit Fassbinders Filmen teilen. Die Darsteller*innen Hanna Schygulla, Günter Lamprecht und Hans Hirschmüller haben uns Grußworte zum Geburtstag übermittelt. Das alles wird am 31. Mai online stattfinden. Der TV-Sender arte zeigt zum Jubiläum derweil die Serie "Berlin Alexanderplatz" (1980) bis August in seiner Mediathek.
Das DFF Fassbinder Center wurde 2019 gegründet. Was gibt es in dem Archiv zu entdecken?
Hans-Peter Reichmann: Es beinhaltet den kompletten schriftlichen Nachlass von Rainer Werner Fassbinder: all seine Manuskripte und Typoskripte, Storyboards und Aufzeichnungen, sogar Produktionsakten, die Fassbinders Mutter Liselotte Eder aufbewahrt hat. Zum Fassbinder-Bestand zählen auch ein Fotoarchiv, unter anderem mit Filmplakaten, sowie ein Textarchiv zur Rezeptionsgeschichte mit Kritiken und einer einmaligen Sammlung an akademischen Schriften, die in den vergangenen Jahrzehnten international entstanden sind. Letzteres hat die Fassbinder Foundation aufgebaut. Das DFF – Archiv- und Studienzentrum ist zur wissenschaftlichen Forschung nach Voranmeldung zugänglich.
Über die Rezeption von Fassbinders Filmen schrieb der Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser, es sei "ein Werk, vom Leben verdeckt". Wie unterscheidet sich die heutige Rezeption von der zeitgenössischen Wahrnehmung?
Hans-Peter Reichmann: Wenn man sich zeitgenössische Beiträge in Print und TV, Interviews oder Pressekonferenzen anschaut, war die Aufmerksamkeit stark auf ihn persönlich gerichtet. Oft sind die Themen des jeweiligen Films zurückgeblieben hinter seinem Auftreten mit Lederjacke und der Verweigerung gewohnter Umgangsformen.
Christine Kopf: Das Image des "Enfant Terrible" hat das Werk ein wenig verschlungen, das gilt teilweise bis heute. Nach vielen biografischen Zugängen finde ich es interessanter, die Begegnung mit dem Werk ins Zentrum zu stellen. Zumindest für ein junges Publikum kann ich sagen, dass Fassbinders Filme, aber auch sein Leben leider gar nicht mehr präsent sind. Wichtig ist noch, wenn es um die Rezeption geht, dass Fassbinder im Ausland eher als Weltkünstler gesehen wird als hierzulande. Und das, obwohl er sich in seinem Werk stets mit seinem Land auseinandergesetzt hat. Mit Blick auf heute könnte man sagen, dass wir ihn und seine Filme in diesem Deutschland mehr denn je brauchen.
Welche Rolle spielen Fassbinder-Filme in der Filmbildung des DFF?
Christine Kopf: Wir sind in der Recherche-Phase für ein großes Fassbinder-Projekt. Die Förderung dafür wollen wir in diesem Jahr sicherstellen, um dann im nächsten Jahr starten zu können. Wir sehen es als kulturellen Auftrag unseres Hauses, Filmgeschichte zu vermitteln und lebendig zu halten. Mit der neuen Fassbinder-Sammlung können wir in der Vermittlung an ein jüngeres Publikum Impulse setzen. Jung ist bei Fassbinder allerdings eingegrenzt, ich denke da frühestens an 15- oder 16-jährige Jugendliche.
Wie kann man sich die Vermittlungsarbeit vorstellen?
Christine Kopf: Das DFF ist ein außerschulischer Lernort. In der ästhetischen Bildung steht die Begegnung mit dem Werk im Zentrum, als Ergänzung zu einem curricular-thematischen Umgang mit Filmen. Nach dem Ansatz von Alain Bergala gehen wir davon aus, dass die Filmvermittler*innen die Rolle des "passeur" (deutsch: Begleiter, Anm. d. Red.) einnehmen und in der Bildung beide Seiten lernen. Ein konkretes Beispiel für Arbeiten mit Sammlungsstücken, aber auch mit einem Fassbinder-Film selbst gab es vor zwei Jahren. Da hatten wir Jugendliche gefragt, welche Exponate aus unserer Dauerausstellung sie besonders spannend finden. Eine Schülerin hat sich dann in einem eigenen Videobeitrag mit Zum Inhalt: einem Kleid aus dem Film Zum Filmarchiv: "Lola" (1981) beschäftigt.
Wenn Sie beide einen Film hervorheben müssten: Welcher Fassbinder-Film eignet sich besonders gut für die Filmbildung?
Christine Kopf: In Partnerschaft mit der Bundeszentrale für politische Bildung beschäftigen wir uns gerade intensiv mit interkultureller Filmbildung. In dem Zusammenhang spielt der Film Zum Filmarchiv: "Angst essen Seele auf "(1974) eine große Rolle. Aus meiner Sicht ist das ein sehr aktueller Film, mit dem man gut mit jüngeren Menschen arbeiten kann. In Frankfurt haben etwa 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen Migrationserfahrungen. Fassbinder mag beim heutigen jungen Publikum zwar zunächst gewisse Widerstände hervorrufen, weil die Rezeption ungewohnt ist. Ich glaube aber, dass die Filme in ihrer Emotionalität und ihrem politischen Widerstand anschlussfähig sind. Das Thema Machtverhältnisse und Minderheiten zieht sich ja durch fast alle Filme Fassbinders.
Hans-Peter Reichmann: Man kann bei Fassbinder eine große Themenvielfalt entdecken. Hervorheben würde ich vielleicht einen seiner Frankfurt-Filme: "In einem Jahr mit dreizehn Monden" (1978) über das Leben einer Transgender-Person, mit einer fantastischen Schauspielleistung von Volker Spengler. Ein Film, der Homo- und Transphobie thematisiert und ein Panorama bundesrepublikanischer Zustände in den 1970er-Jahren zeigt.
Fassbinder Filmästhetik unterscheidet sich von heutigen Rezeptionsgewohnheiten. Welche Bedingungen braucht es, damit sich Jugendliche auf die Form der Filme einlassen können?
Christine Kopf: Im Moment sind diese wunderbaren Orte leider geschlossen, aber ich muss bei der Gelegenheit dafür plädieren, dass Schulklassen Ausflüge ins Kino machen sollten. Gerade Fassbinder-Filme fordern die Konzentration auf die Zum Inhalt: Bildgestaltung, auf die Rahmung der Figuren und die kunstvollen Spiegelungen.
Hans-Peter Reichmann: Die frühen Filme arbeiten mit langen Tableau-Einstellungen, später gibt es aufwendige Zum Inhalt: Kamerafahrten wie die berühmte Kreisfahrt von Michael Ballhaus in "Martha" (1974). Es ist eine Herausforderung.
Weiterführende Links
- External Link DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum
- External Link bpb.de: Alain Bergala: Kino als Kunst
- External Link DFF: 75 Jahre Rainer Werner Fassbinder
- External Link DFF Museumspädagogik: Multimediaguide: Oumaima über Barbara Sukowas Kostüme in Rainer Werner Fassbinders Film LOLA
- External Link BERLIN ALEXANDERPLATZ auf arte.tv