Kategorie: Hintergrund
Der Sound der Nouvelle Vague
Am zeitlosen Charme der Nouvelle-Vague-Filme hat die Musik einen entscheidenenden Anteil. Einige der Regisseur/-innen verfolgten dabei völlig neue Konzepte.
"Ich habe meine Filme so gemacht, wie zwei Jazzmusiker arbeiten", hat Jean-Luc Godard einmal gesagt, "man gibt sich ein Thema, man spielt und dann organisiert es sich von selbst." Das Zitat erzählt davon, wie der Regisseur Godard und seine Kolleg/-innen der Nouvelle Vague an das Filmemachen herangingen – mit einer großen Lust an der Improvisation. Es lässt auch erahnen, wie sehr der Jazz von Miles Davis, Charlie Parker oder John Coltrane, der damals gerade die absolute Moderne symbolisierte, die Akteur/-innen jener Revolution des französischen Kinos faszinierte. Sie kannten und schätzten die damals aus den USA herüberschwappende Populärkultur – und das ist in den Filmen der Nouvelle Vague auch zu hören und nicht zuletzt zu sehen.
Allerdings gilt für den Einsatz der Zum Inhalt: Musik im Speziellen, was auch für alle filmischen Mittel richtig ist: Die Nouvelle Vague lässt sich nicht auf einzelne stilistische Merkmale festlegen. Wacklige Handkamera, Dreh an Zum Inhalt: Originalschauplätzen, nichtlineare Erzählweise, Selbstreflektion und Filmzitate: Kein Film erfüllt alle Kriterien, manche nicht mal ein einziges, sie alle zählen aber doch zur Nouvelle Vague. Und so geht auch jeder Film mit dem Einsatz von Musik anders um: viele überraschend, einige avantgardistisch, manche geradezu klassisch.
Populärkultur hören und sehen
Eins aber haben fast alle Nouvelle-Vague-Filme gemeinsam: Musik spielt in ihnen eine prägendere Rolle, als man es bis dahin im Kino gewohnt war. Das ist nur logisch, ist die Nouvelle Vague doch Teil des Aufstiegs der Jugendkultur nach dem Zweiten Weltkrieg. So verwenden auch die Filmemacher/-innen die Musik nicht mehr nur als Untermalung, sondern identitätsstiftend und in Abgrenzung zur Film-Kultur der vorangegangenen Generation. Die Musik wird nicht vornehmlich als Begleitung, Kommentar und Emotionsverstärker verwendet, sondern oft auch diegetisch, das heißt als Teil der erzählten Welt, eingesetzt. Musik gehört immer wieder zu den vielen Alltagsgeräuschen, die bewusst auf der Tonspur belassen werden, um die Authentizität der Zum Inhalt: Szene zu unterstreichen. Und Musik wird immer wieder Teil der Handlung: Protagonist/-innen legen Platten auf, singen Lieder, spielen Instrumente, sprechen über Musik oder tanzen zum Song aus der Jukebox. Musik wird gewissermaßen zur Akteurin.
Kontrapunktischer Jazz und sentimentale Klänge
Den zu seiner Zeit gewagtesten Umgang mit der Musik pflegte ein Film, der zwar oft der Nouvelle Vague zugerechnet wird, strenggenommen aber ein Vorläufer der Bewegung ist. Als Miles Davis auf seiner Trompete in Echtzeit zum laufenden Bild den Soundtrack zu Louis Malles "Fahrstuhl zum Schafott" ("Ascenseur pour l’échafaud" , 1958) improvisierte, war der filmhistorische Startschuss der Nouvelle Vague, Truffauts Zum Filmarchiv: "Sie küssten und sie schlugen ihn" ("Les Quatre Cents Coups" , 1959), noch ein Jahr entfernt.
In beiden Filmen spielt der Soundtrack eine ungemein wichtige Rolle, aber doch funktioniert die Musik vollkommen anders. Malle setzt gültige Konventionen außer Kraft und lässt dem damals 31-jährigen Davis völlig freie Hand. Statt von einem Orchester den Gefühlshaushalt der Filmfiguren nur unterstreichen zu lassen, erzählt der Trompeter mit seinem Instrument eine zweite Geschichte, die die Filmhandlung kommentiert, sie ergänzt und Kontrapunkte setzt. Nicht so Truffaut: Für seine erste lange Regiearbeit ließ sich der ehemalige Filmkritiker der Cahiers du Cinéma von Jean Constantin, der sich bis dahin vor allem einen Namen als Songwriter für Stars wie Edith Piaf oder Zizi Jeanmarie gemacht hatte, eine vergleichsweise konventionell anmutende Filmmusik komponieren, der Truffauts sentimentale Erinnerungen an seine eigene Jugend adäquat untermalt. Trotzdem tritt auch hier die Musik immer wieder in den Vordergrund, begrüßt die Charaktere mit wiederkehrenden, ihnen zuzurechnenden Motiven und trägt entscheidend zur bisweilen märchenhaften Stimmung des Films bei.
Musiker/-innen als Schauspieler/-innen
Schon ein Jahr später in "Schießen Sie auf den Pianisten" ("Tirez sur le pianiste" , 1960) geht Truffaut ganz anders mit der Musik um. Die Hauptperson ist ein Musiker und wird überdies von dem Chansonnier Charles Aznavour verkörpert – und so wird die Musik geradezu zwangsläufig oft diegetisch eingesetzt. Genauso wie in Zum Filmarchiv: "Cléo – Mittwoch zwischen 5 und 7" ("Cléo de 5 à 7" , 1961), in dem Regisseurin Agnes Varda dem Komponisten des Soundtracks, Michel Legrand, gar eine Rolle als Pianist gibt: Er schreibt das Chanson, das die Titelheldin in der melodramatischen Klimax des Films singt. Auch in Jean-Luc Godards "Masculin – Feminin oder: Die Kinder von Marx und Coca-Cola" ("Masculin – féminin: 15 faits précis" , 1966) spielt Musik eine tragende Rolle: Nicht nur, weil die die Protagonistin Madelaine (gespielt von der Popsängerin Chantal Goya) als Sängerin Karriere machen will, sondern auch, weil Musik allgegenwärtig in der Lebenswelt der jungen Leute ist, die sowohl über Bach als auch Bob Dylan diskutieren. Jacques Demy gewinnt schließlich in Cannes sogar die Goldene Palme für den besten Film mit dem Musical "Die Regenschirme von Cherbourg" ("Les Parapluies de Cherbourg" , 1964), für das Michel Legrand die Musik schrieb. Legrand sollte nicht nur der am meisten beschäftigte Komponist der Nouvelle Vague werden, sondern später auch in Hollywood Karriere machen. Er hat insgesamt mehr als 200 Filme vertont und drei Academy Awards – unter anderem für "Yentl" (1983) - gewonnen.
Die Musik emanzipiert sich vom Dialog
Die Nouvelle Vague revolutionierte das filmische Erzählen und prägt unsere Sehgewohnheiten bis heute. Nur wenige Regisseur/-innen erneuerten die Filmmusik jedoch so radikal wie Jean-Luc Godard. Godard hat zwar selbst einmal behauptet, er habe Musik „meistens konventionell verwendet“ – und doch bricht er so systematisch wie kein anderer mit der Dominanz des Filmdialogs. Stattdessen setzt er Musik, Zum Inhalt: Klänge, Geräusche gleichberechtigt zum gesprochenen Wort ein, mitunter übertönen sie dieses sogar.
Schon in seinem Spielfilmdebüt ("À bout de souffle" , 1960) lässt er Martial Solal nicht nur eine Begleitmusik komponieren, die geprägt ist vom avantgardistischen Cool Jazz, dessen Tonfolgen bisweilen ähnlich sprunghaft erscheinen wie die damals revolutionären Zum Inhalt: Jump-Cuts des Films. Die Protagonistin Patricia legt auch mehrfach Schallplatten mit klassischer Musik auf, die dann zum Soundtrack der Szene werden. So unvermittelt wie die Stimmungen des flüchtenden Kleinkriminellen Michel wechselt auch die Musik von der nichtdiegetischen zur diegetischen Ebene. Nur ein Jahr später wiederholt Godard dieses Prinzip, als er seine damalige Ehefrau Anna Karina in Zum Filmarchiv: "Eine Frau ist eine Frau" ("Une femme est une femme" , 1961) den „Chanson d‘Angela“ singen lässt, wobei er ironisch den US-amerikanischen Zum Inhalt: Revue-Film zitiert.
Folgerichtig ist es auch Godard, der in "Die Außenseiterbande" ("Bande à part" , 1964) die wohl berühmteste Musik- Zum Inhalt: Sequenz der Nouvelle Vague inszeniert. In der knapp vier Minuten langen Zum Inhalt: Plansequenz, in der die Hauptcharaktere Odile, Franz und Arthur in einem voll besetzten Café zu lautem Jazz, der immer wieder abrupt unterbrochen wird von der Stimme des Erzählers, eine cool fingerschnippende Choreografie improvisieren, stellt Godard wieder einmal Sehgewissheiten auf den Kopf: Musik ist nicht nur Verstärkung und Untermalung, stattdessen folgen Bild und Handlung ihrem Rhythmus. Damals, 1964, war die Szene eine Sensation, die die Kinobesucher/-innen irritierte und seitdem immer wieder zitiert worden ist: von Hal Hartley ("Simple Men" , 1992) über Quentin Tarantino ("Pulp Fiction" , 1994) bis zu Roger Michell ("Le Week-End" , 2013). Sie zählt zu den Szenen, mit denen sich die Nouvelle Vague in die Filmgeschichte eingeschrieben hat.