Bettina Henzler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik der Universität Bremen und hat zum ästhetischen Filmvermittlungsansatz von Alain Bergala im Kontext der französischen Cinephilie promoviert.

In welchen Zusammenhang stehen Nouvelle Vague und Bildung?

Die Nouvelle Vague ist im Kontext der Filmclubbewegung der Nachkriegszeit zu verstehen, die für die Entstehung der französischen Cinephilie, der Liebe zum Kino, maßgeblich war. Diese war Teil einer größeren gesamtgesellschaftlichen Volksbildungsbewegung, in der unterschiedliche zivilgesellschaftliche Gruppen sich dafür eingesetzt haben, durch kulturelle Bildung die Demokratie zu fördern. Ein wesentliches Medium war dabei das Kino als Bildungsort: Filme wurden nicht nur gezeigt, sie wurden eingeführt, diskutiert und es wurde über sie geschrieben.

Inwiefern war das Kino auch für die Filmschaffenden der Nouvelle Vague selbst ein Bildungsort?

Die Regisseure und Regisseurinnen der Nouvelle Vague waren Autodidakten. Ihre heute bekanntesten Vertreter waren als Kritiker bei der Filmzeitschrift Cahiers du cinéma tätig und haben dort für die Filmtheorie wegweisende Artikel geschrieben. Sie bezeichneten selbst, etwas zugespitzt, die Cinémathèque française als ihre Filmhochschule. Dahinter steckt die Idee, dass beim Filme schauen die Wahrnehmung geschult wird – und zwar nicht nur wie ich Filme, sondern wie ich auf die Wirklichkeit schaue. Zum anderen geht es um die Aneignung eines filmhistorischen Wissens, auf dessen Basis man sich selbst als Filmschaffende positionieren kann.

Die kulturellen Praktiken dieser Zeit haben also die Art und Weise, wie bis heute über Film gesprochen wird, geprägt. Welche Grundsätze der französischen Filmbildung finden ihren Ursprung in der Zeit der Nouvelle Vague?

Zunächst einmal die Überzeugung, dass Film eine Kunstform ist, und dass die Filmvermittlung mit der Filmauswahl beginnt. Es ist ganz wichtig, dass man nicht nur mit zeitgenössischen Filmen arbeitet, sondern mit Filmen, die aus unterschiedlichen Kulturen und Zeiten stammen. Unsere Sehgewohnheiten bestimmen, wie wir die Welt wahrnehmen. Wenn ich meine eigene Position heute befragen will, dann ist Diversität entscheidend. Hinzu kommt das vergleichende Sehen: In der Cinémathéque française wurden damals an einem Abend drei Filme gezeigt, Werke aus unterschiedlichen Kontexten. So konnten Cinephile, die diese Filme hintereinander geschaut haben, Querverbindungen herstellen, die nicht inhaltlicher oder filmgeschichtlicher, sondern filmästhetischer Art waren. Dies sind die grundlegenden Prinzipien der französischen Filmbildung, wie sie Alain Bergala dann in seinem Buch "Kino als Kunst" dargelegt hat. Drittens, das Zusammenspiel von Filmschauen und Filme machen. Das wird von der Cinémathèque française heute in dem Projekt "Le cinéma, cent ans de jeunesse" mit Klassen aller Altersgruppen verwirklicht.

Bergala, der sich in "Kino als Kunst" auf Kritiker der Cahiers du cinéma ebenso wie auf Regisseure der Nouvelle Vague bezieht, schreibt den Lehrenden eine besondere Rolle zu. Warum ist diese Vermittlerrolle gerade in der ästhetischen Filmbildung so wichtig?

Es geht um die Beziehung zwischen Vermittler/-in, Film und Schüler/-innen. Für eine gelingende Filmvermittlung ist es wichtig, dass man keinen dieser Faktoren unterbewertet. Das heißt, ich sollte nicht nur die Sicht der Schüler einbeziehen, sondern als Vermittlerin auch meinen eigenen Blick auf den Film deutlich machen. Denn wer bildet sich nur in Auseinandersetzung mit sich selbst, oder dem, was ohnehin schon vertraut ist? Wir bilden uns in der Konfrontation mit Dingen, die über uns hinausreichen, die uns befremden.

Bergala hat auch den Vergleich von Filmausschnitten in den Mittelpunkt gerückt. Welche Rolle spielt dieser für die ästhetische Filmvermittlung?

Wichtig ist, dass ich mich nicht nur mit den Themen und Geschichten eines Films befasse. Wenn ich Filme in ihrer Komplexität erschließen möchte, muss ich meinen Blick auf die Verknüpfung von Bildern und Tönen richten. Das kann ich am besten, wenn ich ins Detail gehe, wenn ich Ausschnitte anschaue. So kann ich viel darüber erfahren, wie Film funktioniert und eine Haltung gegenüber dem ausdrückt, was er zeigt und thematisiert.

Warum können die Filme der Nouvelle Vague auch heute noch Jugendliche begeistern?

Die Nouvelle Vague war in gewissem Sinne eine Jugendbewegung. Die damals jungen Regisseurinnen und Regisseure wollten Filme machen, die individueller waren und das Lebensgefühl ihrer eigenen Generation ausdrückten. Sie drehten mit Laiendarsteller/-innen an realen Schauplätzen, brachen mit den Konventionen des Studiosystems. Dadurch haben viele dieser Filme ihre Frische bewahrt. Es ist kein Zufall, dass einer der großen Erfolge der Nouvelle Vague von François Truffaut war, der ein Kind als Hauptfigur hat und der deren Streben nach Freiheit ernstnimmt. Man kann die Filme auch als Dokumente ihrer Zeit anschauen und in Bezug zu Fragen setzen, die heute relevant sind – zum Beispiel was es heißt, jung zu sein, wie sich das Verhältnis zwischen Generationen oder zwischen Mann und Frau gestaltet. Die Filme zeigen, dass Emanzipation schon damals ein Thema war ebenso wie die Frage, wie wir Menschen begegnen, die uns fremd sind.

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