Angst und Verdächtigung

Ein Mann überquert auf einer Fähre den Rhein. Ein anderer Passagier richtet seine Schmalfilmkamera auf ihn. Nach einem Umschnitt sieht das Publikum den Mann durch den Sucher der Kamera. Er erscheint im Fadenkreuz. Das ist ein Signal für Beobachtung, Observation. Die Frage nach dem Überwachungsstaat war schon 1975 aktuell. In diesem Jahr drehte Volker Schlöndorff gemeinsam mit seiner damaligen Ehefrau Margarethe von Trotta die Literaturverfilmung "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" .

Die verlorene Ehre der Katharina Blum

Universal

Der Film beginnt mit der skizzierten Sequenz der Rheinüberfahrt und gehört zu den Werken, mit denen man die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erzählen kann. Er beschreibt die Stimmung, die Mitte der 1970er-Jahre im Land herrschte. Es waren die Jahre des Terrors der Roten Armee Fraktion (RAF) und die Jahre einer nahezu hysterischen institutionellen und gesellschaftlichen Gegenreaktion. Die Sicherheitsorgane nahmen die Gesellschaft so scharf ins Visier, dass viele Bürgerinnen und Bürger das Gefühl bekamen, unter Generalverdacht und Dauerkontrolle zu stehen. Auf der anderen Seite gab es berechtigte Ängste vor Terroristen/innen und deren mutmaßlichen Sympathisanten/innen. Von manchen Medien – vor allem von den Zeitungen des Springer-Konzerns – wurden diese Ängste mit spekulativer Absicht geschürt.

Hysterie und Karneval

Genau diese Atmosphäre versuchte Schlöndorff in seinem Film einzufangen. Die hoch erhitzte Terror-Hysterie wird gespiegelt in den Exzessen des Kölner Karnevals. Köln ist der Ort der Handlung. Ludwig Götten, der Mann von der Fähre – ein flüchtiger Deserteur, wie später im Film verraten wird –, lernt auf einer Karnevalsparty die Hauswirtschafterin Katharina Blum kennen. Sie verlieben sich und verbringen die Nacht miteinander. Am nächsten Morgen wird Katharinas Wohnung von der Polizei gestürmt, denn Götten wurde überwacht. Doch sie hat dem Mann zur Flucht verholfen. Nun gerät sie in die Mühlen der Justiz, schlimmer noch: Sie wird Reportageobjekt und damit Opfer des Boulevardjournalisten Tötges.

Die Rolle Heinrich Bölls

Die Namen der Personen sind sinnbildlich zu verstehen. In "Tötges" ist der Reflex zum Töten abgebildet. Katharina bedeutet: die Reine. Heinrich Böll hat die Namen für die Figuren seiner Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974) erfunden, die Schlöndorffs

Die verlorene Ehre der Katharina Blum

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Film zugrunde liegt. Böll war zu dieser Zeit der bekannteste Schriftsteller der Bundesrepublik Deutschland. 1972 hatte er den Literaturnobelpreis bekommen. Im selben Jahr hatte er sich mit einem Artikel im Nachrichtenmagazin Der Spiegel in die Diskussion um die RAF eingemischt. In der Folge war er von den Springer-Zeitungen hart attackiert worden und sein Haus wurde polizeilich durchsucht. Er fühlte sich als Opfer der bundesrepublikanischen Ausnahmezustände und verarbeitete diese Gefühle in einer Novelle, die davon erzählt, wie eine junge Frau aus purer Liebe zum Opfer der Verhältnisse und letztlich zur Täterin wird. Denn am Ende von Buch und Film erschießt sie Tötges.

Journalismus und Justiz

Als die Erzählung 1974 erschien, waren mit Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Karl Raspe und Ulrike Meinhof die Köpfe der RAF gerade verhaftet worden. Als Volker Schlöndorff 1975 mit der Verfilmung begann, startete die zweite Terror-Generation ihre Befreiungsversuche. Im Februar wurde der Berliner CDU-Politiker Peter Lorenz entführt, im April die deutsche Botschaft in Stockholm überfallen. Im Mai begann der RAF-Prozess in Stuttgart-Stammheim. Das ist die historische Folie, vor der Volker Schlöndorff und Margarete von Trotta den Film drehten und montierten. Sie verschoben den Handlungsakzent von Bölls konkretem Angriff auf die Bild-Zeitung zur Bloßstellung von Überreaktionen der Justiz und der Presse. Im Film tragen beide Institutionen gleichwertig zur inneren Zerstörung von Katharina Blum bei.

Die Kraft des Melodrams

Schon Heinrich Bölls Erzählung war parteiisch und polemisch, wahrte allerdings durch die Form eines recherchierten Berichts ironische Distanz. Volker Schlöndorff dagegen setzte ganz auf die emotionalisierende Kraft des Melodrams. Er beschrieb die historische Situation als tatsächliche Bedrohung des Bürgers, hier der Bürgerin Blum. Indem er die Figur mit der damals noch unbekannten Schauspielerin Angela Winkler besetzte, die ihre Mittel sparsam und beherrscht einsetzen kann, schuf er einen stillen, nahezu sachlichen Charakter als Sympathieträger. Umso deutlicher wurden Antipathien auf Katharinas Widersacher gelenkt: den aaligen Kommissar Beizmenne in Mario Adorfs süffisanter Darstellung und den widerwärtigen Journalisten Tötges, den Dieter Laser durch heftiges Chargieren beinahe unglaubwürdig machte.

Inszenierung der Gefühle

Bis zu "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" war Volker Schlöndorff durch Arbeiten wie "Strohfeuer" (BRD 1972) eher als poetisch registrierender Filmemacher bekannt. Jetzt zeigte er andere Mittel. Drei Beispiele sollen belegen, wie er Emotionen inszenierte. Katharinas Wohnung ist nach dem Eindringen der Polizei wieder aufgeräumt.

Die verlorene Ehre der Katharina Blum

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Sie hat die an sie gerichteten pornografischen und antikommunistischen Schmähbriefe aus der Hand gelegt, und jemand sagt, jetzt sei es doch hier wieder "ganz gemütlich". Da wirft sie Tassen an die Wand, Teller, stürzt Regale um, stellt in der Außenwelt die Zerstörung her, die gerade in ihrer Seele angerichtet wird und die ganz und gar ungemütlich ist. Später: Katharinas Mutter ist gestorben, nachdem Tötges zu ihr in die Klinik-Intensivstation vorgedrungen war. Nüchtern begleitet Katharina die Reinigung des Leichnams. Dann geht sie durch eine Glastür, setzt sich und beginnt leise zu weinen. Die Kamera beobachtet sie durch den Türrahmen diskret von hinten und potenziert gerade durch die Distanz das Mitleiden des Publikums. Schließlich kommt Katharina zum Versteck Göttens, nachdem der gerade von einem Riesenaufgebot der Polizei verhaftet wurde. Da lässt Schlöndorff Angela Winkler in einer Zum Inhalt: EinstellungsgrößenHalbtotalen ganz alleine über eine weite Wiese gehen, während im Hintergrund Einsatzfahrzeug um Einsatzfahrzeug vorbei rollt. Einsamkeit und Schutzlosigkeit des Opfers vor der Drohkulisse des übermächtigen Staatsapparats wirken riesengroß.

Verlust des Selbstwertgefühls

Das sind drei Sequenzen, in denen der Verlust der Ehre der Protagonistin, ihres Selbstwertgefühls und ihrer ungebrochenen Identität deutlich wird. In "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" erzählt Volker Schlöndorff davon, wie ein Mensch an Verhältnissen zerbricht, die durch Ängste und Hysterien aus den Fugen geraten sind – und durch das mediale Geschäft mit dem individuellen Schicksal. Er wollte mit seinem Film nicht nur einen rationalen Diskurs anregen, sondern auch Gefühle, beinahe Wut beim Publikum erzeugen. Entsprechend emotional waren die Diskussionen nach dem Start des Films. Er wurde ein überraschender Erfolg, denn die Menschen in der Bundesrepublik spürten, dass hier – wenn auch mit großem "Bauchgefühl" – von ihrer Lage, von ihrem Staat und von ihren Gefährdungen erzählt wurde. Deswegen ist "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" ein Film, der späteren Generationen noch viel über eine schwierige Epoche der deutschen Geschichte zu erzählen hat.

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