Ein Ball springt zwischen eng stehenden Mauern eine schmale Lehmtreppe hinunter. Er bringt unvorhergesehen Bewegung in ein statisches Bild: eine sandige Gasse, irgendwo in Timbuktu. So ein Ball steht für Zeitvertreib und technisches Geschick, aber in Abderrahmane Sissakos Zum Filmarchiv: "Timbuktu" wird der hüpfende Ball zu einem Problem. Ob er nicht wisse, dass das Fußballspielen verboten sei, wird der junge Mann gefragt, der sich in einem kargen Raum vor einem selbsternannten Gericht für sein „Fehlverhalten“ verantworten muss. Drei Männer sitzen vor ihm, um die neuen Regeln durchzusetzen. Regeln, die das gesellschaftliche Leben verändern werden. Unvermittelt sind Dinge verboten, die vor wenigen Tagen noch selbstverständlich zum Alltag gehörten: das Fußballspielen, Musik, Rauchen oder einfach nur in den Gassen rumzusitzen. Der junge Mann weiß darum und wird sich für diese wissentliche Übertretung des neuen Gesetzes zwanzig Peitschenhiebe einhandeln.

Spiel ohne Ball

Gegen das Verbot des Fußballspiels entwirft Sissako eine Choreografie ohne Ball. Zu klassischer Musik sieht man Jungen auf einem provisorischen Fußballfeld einem imaginären Ball hinterherlaufen. Sie kicken, sie rennen, schießen Tore, aber ihre Bewegungen erinnern eher an einen modernen Tanz. Die Zum Inhalt: nicht-diegetische Musik hebt die Zeit auf. Woran man sich im Kino längst gewöhnt hat, dick aufgetragene Filmmusik, die Gefühle unterstreicht, wirkt inmitten des sonst so spärlichen und präzisen Zum Inhalt: Ton- und Geräuschsettings von "Timbuktu" irritierend.

Timbuktu, Szene (© Arsenal)

Wehklagen und Aufbegehren

Ein Musikverbot stellt einen unermesslichen kulturellen Einschnitt im Leben der Menschen dar. Sissako zeigt das in "Timbuktu" vor allem an zwei Stellen. Der Tuareg Kidane und seine Familie verbringen die Abende unter ihrem Zelt. Der Vater zupft an der Gitarre, seine Frau Satima und Tochter Toya wiegen sich in repetitivem Gesang. Minimale, betörende Melodien, bekannt auch als malischer Blues, erheben sich über die dunkle, verlassene Wüstenlandschaft. Die Familie ist als letzte geblieben, alle anderen Nachbarn sind längst vor dem neuen Regime geflohen.

Eine ähnlich harmonische Konstellation findet sich in derselben Nacht in einem Zimmer in der Stadt. Vier junge Leute erschaffen mit wenigen Mitteln, mit Gitarre, Gesang und sehr verhaltenen Trommelrhythmen wunderbar einfache Musik. Dass dies eine Straftat ist, wissen wir bereits und so sanftmütig wie die Kamera die fröhliche Szene betrachtet, so schmerzhaft wird das Wissen um diesen so kostbaren, vergänglichen Moment. Sissako benutzt die zwei Szenen als erzählerische Klammer um das Fußballspiel, die einer Empörung zurückhaltend Ausdruck verleiht. Was in seiner Leichtigkeit unwiderruflich verschwindet, wird in all seiner Schönheit ein letztes Mal zelebriert. Darin liegt gleichermaßen ein Wehklagen und ein Aufbegehren.

Timbuktu, Szene (© Arsenal)

Gegen das Klischee

Mit seiner konzentrierten Aufmerksamkeit solchen Details gegenüber gibt Abderrahmane Sissako den Menschen wie den Dingen durch das Bild, das er von ihnen herstellt, eine Autonomie und Körperlichkeit. Er verleiht ihnen Präsenz. Die Menschen mit denen Sissako arbeitet, manche von ihnen Schauspieler, viele nicht, repräsentieren niemanden, sie verkörpern nichts anderes als unterschiedliche Lebensweisen und Alltagspraktiken. Das dokumentarische Element dieser fiktiven Erzählung, das Physische einer vielschichtigen Alltagskultur, vermittelt eine Vorstellung davon, was durch das Regime der Fundamentalisten zerstört wurde. So äußert sich in "Timbuktu" die damit einhergehende Gewalt als Akt der Zerstörung einer weitgehend intakten Gesellschaft und nicht als Wiederholung des sich hartnäckig haltenden Klischees von Afrika als Armutskontinent und humanitärer Krisenherd.

Der Islam als tolerante Religion

Sissako versucht nicht zu erklären, er gibt den Zuschauenden auch keinen historischen Kontext. Aber führt durch Bewegungen, Sprechweisen, Reaktionen und Regungen die Auswirkungen einer temporären, profitablen Machtkonstellation vor. Zu Beginn des Films betreten bewaffnete islamische Kämpfer eine Moschee, um dort eine zentrale Verlautbarung auszurufen. Die Kamera verleiht diesem symbolischen Ort des Gebets und der Kontemplation eine Aura, die dem Eindringen der Dschihadisten entgegenwirkt. Der Imam weist mit gelassener Autorität ihre Drohungen zurück. So fächert Sissako immer wieder Aspekte des Islam als weltoffene und tolerante Religion auf und zeigt auch die Kämpfer des neuen Regimes in ihrer Widersprüchlichkeit.

Offenheit der Bildkomposition

Die Steinigung arrangiert Sissako in einer Art Triptychon. Zwischen die Szene der Steinigung montiert er den heimlichen Ausdruckstanz eines Befehlshabers, dessen weit ausholende Armbewegungen einem Vogel gleichen. Von oben herab wird der Mann mit schläfriger Neugier und zugleich wissend von einer ebenfalls aus Zeit und Raum gefallenen Figur betrachtet, die in "Timbuktu" Narrenfreiheit genießt und ihr Anderssein mit magischer Autorität zelebriert. Sie sei, so erzählt die Frau, bei einem Erdbeben in Haiti durch die Erdschichten hindurch gebrochen und in Mali gelandet. Ihre großzügige Mimik in der Zum Inhalt: Großaufnahme und die Offenheit der Bildkomposition trotzen der scheinbar unaufhaltsamen und alles verengenden Kriegslogik. Die Zum Inhalt: Sequenz bildet ein rätselhaftes Wechselspiel, dessen Bedeutungen Sissako im Vagen belässt. Mit dem letzten Akkord senkt sich der aufgewirbelte Staub und zurück bleibt das Bild zweier gesteinigter Köpfe, die Körper bis zum Hals im Sand eingegraben.

Ausdruck von Eigensinn

Wie schon in seinen vorherigen Filmen "Das Leben auf Erden" (1998), "Reise ins Glück" (2002) und "Bamako" (2006) geht Sissako in "Timbuktu" von einem konkreten Ort aus, der eng mit Auswirkungen der Weltpolitik verbunden ist. Um ein Gespür für diesen Ort zu entwickeln, die Entfernungen, Geräusche, Beschwerlichkeit und räumlichen Zusammenhänge, rückt Sissako wiederholt Verkehrs- und Transportmittel ins Bild, deren Bewegungen er regelrecht choreografiert. Bewegungen verleihen Charakter. Und so gibt das Brettern durch die Wüste mit dem beflaggten Jeep einen aggressiven Takt vor, während der namenlose Mann, der auf seinem Motorrad täglich Wasservorräte transportiert, für Unabhängigkeit steht. In den Fußmärschen Kidanes ohne seine Herde kommt ebenfalls ein Eigensinn zum Ausdruck: zu Fuß gehen, um nachzudenken, und eben nicht zu Fuß gehen aus Mangel.

Timbuktu, Szene (© Arsenal)

Gesellschaft ohne Übersicht

Auch der folgenschwere Konflikt zwischen Kidane und dem Fischer geht aus dieser mit der Arbeit der Tuareg zusammenhängenden Mobilität hervor. Der Konflikt spielt den Ahndungen des neuen Regimes in die Hände, ist jedoch in keiner Weise religiös motiviert. Ein Rind aus Kidanes Herde verfängt sich in den Netzen des Fischers, der das Tier daraufhin mit einem Speer tötet. Die Hintergründe für die gewaltsame Eskalation werden nicht offengelegt, man ahnt jedoch, dass auch sie in einem größeren Zusammenhang mit dem neuen gesellschaftlichen Klima stehen. Von weit oben aus der Zum Inhalt: Vogelperspektive verweilt die Kamera auf dem breiten Fluss in der Abenddämmerung und zeigt eine weitläufige Landschaft. Eine Übersicht, die hier niemand mehr zu haben scheint, dabei wäre Platz genug für ein einvernehmliches Zusammenleben. Aus der Ferne sieht man, wie sich Kidane und der Fischer ans Ufer zurückschleppen. Der Todesschuss war ein Unfall, aber die Tragödie nimmt ihren Lauf.

Für das Ende dieser Tragödie entwirft Sissako kein Bild des Todes. Stattdessen beschreibt er die Auflösung einer Ordnung – der Orte, des Alltags. Dieser Verlust manifestiert sich in der Schlusseinstellung von Toya auf ihrer verzweifelten, orientierungslosen Flucht. Zu hören sind allein Geräusche, die dem Bild entstammen: das Keuchen und Wimmern der rennenden Kinder, das trockene Knattern von Maschinengewehren, Motorengeräusche und die beschwörend repetitiven Laute Toyas. Sie läuft auf die Kamera zu, nicht vor ihr weg. Was dahinter liegen könnte, lässt Sissako offen.