Kategorie: Interview
"Die islamistischen Gruppen übten anfangs eine Attraktivität auf die Bevölkerung aus"
Wir sprachen mit dem Mali-Experten Georg Klute über die politischen Hintergründe von Timbuktu und das gesellschaftliche Bild, das Regisseur Abderrahmane Sissako in seinem Film zeichnet.
Wir sprachen mit dem Mali-Experten Georg Klute über die politischen Hintergründe von "Timbuktu" und das gesellschaftliche Bild, das Regisseur Abderrahmane Sissako in seinem Film zeichnet.
Georg Klute ist Professor der Ethnologie an der Universität Bayreuth. Zu seinen Forschungsgebieten gehören unter anderem die südliche Sahara und der angrenzende Sahel (Mali, Niger, Algerien), die Verbreitung des Islam in Afrika, die Entstehung nicht staatlicher Formen politischer Organisationen und Nomadismus. In seinem letzten Forschungsprojekt untersuchte er die politische Kultur in Afrika. Bei mehreren Dokumentarfilmen über die Sahara und die Tuareg, u.a. "Ässhäk" (Regie: Ulrike Koch), "Adalil" (Regie: Sylvie Banuls & Peter Heller) und "Middle of the Moment" (Regie: Nicolas Humber & Werner Penzel), ist er zudem in beratender Funktion tätig gewesen.
Herr Klute, können Sie kurz die politischen Hintergründe von "Timbuktu" erklären?
Dazu muss ich etwas weiter ausholen. Islamische Gruppen sind schon relativ lange in Mali präsent. 2003 drangen erstmals islamische Kämpfer aus dem algerischen Bürgerkrieg der 1990er-Jahre, unter anderem Mitglieder der GSPC (Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat), in malisches Territorium vor. Der damalige malische Präsident Amadou Toumani Touré ging, im Gegensatz zu den Regierungen der Nachbarländer, nicht entschieden genug gegen diese radikalen Elemente vor, sodass sie sich im Norden Malis festsetzen konnten. 2007 benannte sich die Gruppe in AQIM (Al-Qaida des Islamischen Maghreb) um, wobei Experten bis heute davon ausgehen, dass es keine Verbindungen zur Al-Qaida in Afghanistan gibt.
Anfang 2012 löste ein Tuareg-Aufstand im Norden Malis einen Bürgerkrieg aus, der zum Sturz des Präsidenten Touré führte.
Entscheidend für die heutige Situation Malis war der Arabische Frühling, der 2011 auch Libyen erreichte. Damals versprachen die westlichen Regierungen einer Einheit Gaddafis unter der Führung des Generals Mohamed Ag Najim, einem Tuareg aus Mali, freies Geleit, wenn sie nicht in die Kämpfe eingriffen. So konnte sich der General mit seinen bewaffneten Truppen unbehelligt bis in den Norden Malis zurückziehen. Dort schloss man sich mit der Befreiungsbewegung MNA zur MNLA (Nationale Bewegung zur Befreiung des Azawad) zusammen, die sich für die Autonomie des Azawad, des von Tuareg bewohnten Nordterritoriums, einsetzte. Und dieser Befreiungsarmee gelang es zwischen Januar und April 2012, die malische Armee vollständig aus dem Norden Malis zu vertreiben. Unterstützt wurde die MNLA unter anderem von militanten Salafisten wie der Al-Qaida des Islamischen Maghreb und Ansar Dine, die dabei eigene Interessen verfolgten. So strömten schon kurz nach der „Befreiung“ des Nordens zunehmend radikal-islamistische Gruppen, die im Zuge des Arabischen Frühlings in anderen Ländern rasch Zulauf bekommen hatten, in das Gebiet, weil sie hofften, dort eine neue Heimat zu finden.
Mali galt immer als religiös tolerantes Land. Wie konnte es den radikalen Islamisten dennoch gelingen, die Kontrolle über die Bevölkerung zu gewinnen?
Man muss die Vorstellung, dass Mali ein gemäßigter islamischer Staat war, relativieren. Es gab auf dem Gebiet des heutigen Mali schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Theokratie, die eine radikale Praxis des Islam propagierte. Eine radikale Auslegung des Islam ist historisch gesehen in der Region der Westsahara also nicht außergewöhnlich. Das unabhängige Mali allerdings war religiös tolerant, und zwar nicht nur gegenüber verschiedenen islamischen Glaubensströmungen, sondern auch gegenüber den Angehörigen anderer Religionen. Was in der öffentlichen Darstellung schnell in Vergessenheit gerät, und das zeigt der Film etwa durch den Konflikt zwischen dem Tuareg Kidane und dem Fischer sehr gut, ist, dass diese radikal-islamistischen Gruppen, die großenteils aus dem Ausland kamen, anfangs eine gewisse Attraktivität auf die einheimische Bevölkerung ausübten: Sie brachten – in Form der Scharia – Recht und Ordnung. Außerdem ist ein zentraler Punkt in der Ideologie radikaler Organisationen wie etwa auch dem IS (Islamischer Staat), dass die kolonialstaatlichen Grenzen nichts mit dem Gesellschaftsmodell der islamischen Gemeinschaft zu tun haben. Sie müssen sich vor Augen halten, dass sich der malische Staat, der von vielen Tuareg als korrupt angesehen wurde, zu diesem Zeit bereits vollkommen aus dem Norden zurückgezogen hatte. Die Islamisten boten der Bevölkerung ein neues gesellschaftliches Projekt. Und sie argumentierten zudem, dass ihr Recht göttliches Recht sei.
Welche politischen Modelle konkurrieren heute in Mali?
In Mali prallen ganz unterschiedliche Interessen aufeinander. Die Tuareg und die MNLA wollen einen Staat auf ethnischer Grundlage oder zumindest Autonomie für den Norden des Landes. Die malische Regierung sieht einen Staat nach dem Modell der französischen Republik vor. Und die islamischen Elemente beziehen sich auf ein politisches Modell aus der Frühzeit des Islam, das Kalifat.
In "Timbuktu" spielt der Imam eine Mittlerrolle zwischen den gemäßigten und den radikalen Islamisten. Wie reagierten moderate islamische Gruppen auf die Dschihadisten?
Es gab in Mali vehemente Debatten zwischen Vertretern der sufischen Auslegung des Islam, die eine mystische Glaubenspraxis jenseits des Rationalen lehren, und Fundamentalisten, die sich streng auf die Worte des Propheten Mohammed berufen. Innerhalb dieser fundamentalistischen Gruppe wiederum wurde die Frage diskutiert, ob zur Ausbreitung des Islam auch Gewalt angewendet werden dürfe. Der Imam im Film steht auf der Seite des gemäßigten Islam. Für ihn ist der islamische Glaube ein Erkenntnisprozess. An einer Stelle fragt er Abdelkrim und seine Leute sogar explizit: „Wer seid ihr eigentlich, dass ihr einen Dschihad ausruft?“
Das ist eine theologische Diskussion. Fundamentalisten haben aber auch heilige Stätten zerstört, wie am Anfang von "Timbuktu" zu sehen ist.
Auch das ist letztlich ein theologischer Konflikt. Im sufischen Islam nimmt, vergleichbar mit dem Katholizismus, die Verehrung von Heiligen und ihren Abbildern einen großen Platz ein. In Mali ging es speziell um die Gräber von als heilig angesehenen Männern, die eine größere Nähe zu Gott hatten und daher als Mittler fungierten. Die Fundamentalisten vertreten den Standpunkt, dass diese Reliquien reine Fetischobjekte sind. Sie haben die heiligen Gräber in Timbuktu also – ähnlich wie die Protestanten im 16. Jahrhundert – in dem Glauben zerstört, sie würden die Religion von Unreinheit befreien.
Anfang 2013 gelang es internationalen Hilfstruppen unter Führung des französischen Militärs die Islamisten zurückzudrängen. Wie bewerten Sie die aktuelle Situation in Mali?
Zurzeit laufen in der algerischen Hauptstadt Algier Verhandlungen zwischen der MNLA, anderen nicht salafistischen, islamischen Gruppierungen und der malischen Regierung. Radikal-islamische Gruppen nehmen nicht teil. Der erste Schritt wäre, Frieden zwischen den Tuareg-Gruppierungen und der Regierung zu stiften. Aber davon sind die involvierten Parteien derzeit weit entfernt. Kritisch gesehen wird der Einfluss Frankreichs als ehemalige Kolonialmacht, das momentan militärisch die stärkste Partei stellt. Allerdings hat Mali sich auch als unfähig erwiesen, sich gegen den Einmarsch der Dschihadisten zu verteidigen. Es geht zunächst darum zu verhindern, dass die radikalen Elemente – anders als in Syrien oder Irak – neue Strukturen aufbauen. Die Demokratie in Mali muss auf ein sicheres Fundament gestellt werden.