Kategorie: Hintergrund
Vision und Wirklichkeit
Die Fantasiesequenzen in The Liverpool Goalie – oder: wie man die Schulzeit überlebt
In den meisten Fällen dienen Träume der Wunscherfüllung. Davon kann in "The Liverpool Goalie" nicht die Rede sein: Jos paranoide Vorstellungen hindern ihn vielmehr daran, Selbstbewusstsein zu entwickeln.
"Hier ruht Jo Idstad". So steht es auf seinem Grabstein. Bevor wir den jungen Protagonisten von Zum Filmarchiv: "The Liverpool Goalie – oder: wie man die Schulzeit überlebt" (Keeper'n til Liverpool, Arild Andresen, Norwegen 2010) richtig kennen lernen, ist er bereits gestorben, und zwar mehrmals. Der Fußball war sein Tod, doch auch ungesicherte Baustellen oder hinterlistige Mitmenschen können einem jungen Leben ein frühes Ende bereiten. Zum Glück sind diese Dramen nur Produkte seiner Fantasie. Im wahren Leben ist Jo quicklebendig. Er denkt nur manchmal zuviel nach – und hat einen sehr schwarzen Humor.
Eine Welt voller Gefahren
Träume, Wünsche, Fantasien – bevor sie lernen, die Eindrücke der ersten Lebensjahre rational zu erfassen, leben Kinder in magischen Welten. Über dieses Alter ist Jo mit seinen 13 Jahren längst hinaus: Er kennt das Leben und vor allem seine Gefahren! Eben darum ist sein Denken und Handeln von ausufernden Fantasien bestimmt, die der Film in pessimistischen Angstvisionen genüsslich zelebriert. Ob Jo dabei an kindlichen Vorstellungen festhält oder bereits wie ein Erwachsener denkt, ist schwer zu bestimmen. Wird ihm doch die panische Angst vor Krankheiten, Unfällen und sonstigem Missgeschick von seiner übervorsichtigen Mutter täglich vorgelebt. Objektiv betrachtet steckt Jo in einem für Jugendliche typischen Dilemma: Eine bereits große Fülle an Informationen kann noch nicht adäquat verarbeitet werden. An diesem Punkt seiner Entwicklung kennt der intelligente Junge nur eine Strategie: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.
Fantasie mit Folgen
Auffällig ist der große Unterschied zu anderen Kinder- und Jugendfilmen. In den meisten Fällen, so etwa in Zum Filmarchiv: "Lippels Traum" (Lars Büchel, Deutschland 2009), dienen Träume der Wunscherfüllung. Die eigene Vorstellungskraft ermächtigt die jungen Protagonisten/innen, ihre Sehnsüchte und Ziele zu formulieren und später auch auch in Handlungen umzusetzen – oft genug im Kampf mit einer verständnislosen Erwachsenenwelt. Werden hingegen Ängste thematisiert, führt die Konfrontation mit dem Schrecklichen zu einer inneren Reife. Beispielhaft ist etwa die surreale Alptraumwelt in Zum Filmarchiv: "Coraline" (Henry Selick, USA 2009), in der die junge Heldin nicht nur ihre Angst überwindet, sondern sogar Verbündete findet. Davon kann in Zum Filmarchiv: "The Liverpool Goalie" nicht die Rede sein: Jos paranoide Vorstellungen hindern ihn vielmehr daran, eigene Wünsche zu erfüllen oder Selbstbewusstsein zu entwickeln.
Spiel mit dem Publikum
Die für die Struktur des Films elementaren Fantasiesequenzen sind kunstvoll Zum Inhalt: montiert und setzen meist dann ein, wenn eine Entscheidung gefragt ist. Was könnte alles passieren, wenn sich Jo dem ihn drangsalierenden Mitschüler Tom-Erik widersetzen würde? In drastischen Kettenreaktionen spielt Jo gedanklich die befürchteten Strafen durch. Hat das Publikum einmal gelernt, wie der Film funktioniert, erlaubt sich Regisseur Arild Andresen auch Variationen und verbirgt zunächst, dass es sich um eine Fantasie handelt. Das ist etwa der Fall, als sich Jo anschickt, seinen Schwarm Mari erstmals anzusprechen. In einer ersten Variante reagiert sie freundlich, Jos Mut hat sich ausgezahlt. Leider nur in seiner Vorstellung, was sich aber erst durch den Beginn der zweiten Variante herausstellt: Jo wagt den gleichen Schritt, erfährt jedoch bittere Ablehnung. Die Zuschauenden sind mittlerweile im Bilde und verfolgen amüsiert den Ablauf der weiteren Geschehnisse: Gedemütigt und verlacht, wird der depressiv gewordene Jo in die Psychiatrie eingeliefert; voreilig entlassen, entwickelt er sich zum Amokläufer, der Mari und den inzwischen sogar mit ihr verheirateten Erzfeind Tom-Erik niedermetzelt. Was nach der ersten positiven Variante geschieht, erfahren wir hingegen nie. Für positives Denken ist Jo nicht zuständig.
Filmsprache
Ein sicheres Zeichen für den Beginn einer neuerlichen Träumerei ist Jos gelassenes Zum Inhalt: Voice-Over, das den schwarzen Humor in einen rationalen Kontext stellt. Bezeichnet er etwa seine Haft ironisch als "Ferien auf Staatskosten", kann er die Sache so ernst nicht meinen. Kennzeichnend wirkt außerdem der Gebrauch von Zum Inhalt: Zeitlupen und Zum Inhalt: Musik, wobei die einzelnen Stücke oft mitten in der Fantasie wechseln – etwa von Flamenco zu harter Rockmusik – und damit einen Stimmungsumschwung andeuten. In der genaueren Analyse zeigen sich oft winzig kleine Bild- und Tonelemente, die zur jeweiligen Atmosphäre jedoch entscheidend beitragen: So erzeugt das krähenähnliche Zum Inhalt: Krächzen von Möwen über Jos Fußballtor eine unheimliche Friedhofsruhe, die an ältere B-Horrorfilme erinnert. Seinen imaginierten Tod begleitet eine Sterbeglocke, ähnlich wie es der Komponist Ennio Morricone in der Zum Inhalt: Filmmusik zu "Spiel mir das Lied vom Tod" (C'era una volta il West, Sergio Leone, Italien, USA 1968) verwendete.
Medieneinflüsse
Solche Verweise machen Jos Angstträume nicht zuletzt als Resultat eines gesteigerten Medienkonsums erkennbar. So "weiß" er offenbar aus Film und Fernsehen – von wirklichem Wissen über Homosexualität weit entfernt –, was kleine Jungen in einem Männergefängnis zu erwarten haben. Ein direktes Filmzitat ist eine Gewaltszene mit Tom-Eriks Vater als rachsüchtigem Killer, die fast bildgleich aus Terry Gilliams Science-Fiction-Film "12 Monkeys" (USA, 1995) übernommen wurde – in Deutschland hat dieser Film eine Altersfreigabe ab 16 Jahren. Besonders gewagt jedoch wirkt die Szene des Amoklaufs, auch vor dem Hintergrund des norwegischen Anschlags von Utøya, bei dem im vergangenen Jahr 68 zumeist junge Menschen starben. Jo stürmt die Schule nicht in seinem Kinderparka, sondern in einem schwarzen Mantel, wie ihn auch die jugendlichen Attentäter des Schulmassakers von Littleton im Jahr 1999 trugen. Die Bilder von der Columbine High School gingen durch alle Medien und wurden auch in Kinofilmen wie (Michael Moore, USA 2002) und Zum Filmarchiv: "Elephant" (Gus Van Sant, USA 2003) aufgegriffen. Man kann Andresen hier vorwerfen, mit dem Entsetzen Scherz zu treiben. Sein Vorgehen lässt sich jedoch auch verteidigen: als Auseinandersetzung mit medial vermittelten Ereignissen und Bildreizen, die Jugendliche verunsichern und bewegen.
Die Grenzen der Einbildung
Wie alle Träumer der Kinderfilmwelt wird auch Jo seine schlimmsten Befürchtungen überwinden. Die Fantasie – er würde freilich von gesundem Pessimismus sprechen – darf der kindlichen Selbsterfüllung so wenig im Weg stehen wie eine als grausam empfundene Realität. Das sicherste Zeichen dafür, dass die Einbildung auch ihre Grenzen hat: Selbst in erwachsenen Zukunftsvisionen bleiben die Kinder doch stets Kinder. Das gilt auch für die letzte Szene, in der sich Jo erstmals einen großen Erfolg ausmalt. Denn Kinder können zwar vieles erreichen, sie erhalten aber ganz sicher keinen Profivertrag beim FC Liverpool.