In Japan ist der ehemalige Spiele-Entwickler und jetzt Zum Inhalt: Anime-Regisseur Shinkai Makoto durch seine Filme Zum Filmarchiv: "Your Name. – Gestern, heute und immer" ("Kimi no Na wa" , 2016) und "Weathering with You – Das Mädchen, das die Sonne berührte" ("Tenki no Ko" , 2019) ein Superstar. Sein aktueller Film Zum Filmarchiv: "Suzume" ("Suzume no Tojimari" , 2022) ist in seiner Heimat bereits im vergangenen Jahr erfolgreich gestartet. kinofenster.de hat mit ihm darüber gesprochen.

kinofenster.de: Herr Shinkai, am 11. März 2011 wurde Japan von einem heftigen Erdbeben erschüttert, das Atomkraftwerk in Fukushima durch den darauf folgenden Tsunami zerstört, ganze Landstriche vernichtet. Warum hat es über zehn Jahre gedauert, bis diese dreifache Katastrophe filmisch aufgearbeitet wurde?

Shinkai Makoto: Weil das Trauma noch immer anhält. Es hat sich bislang einfach niemand getraut, sich dem anzunehmen. Noch immer gibt es viele Regionen, die Sperrgebiete sind, Zonen, in die niemand hineindarf. Es gibt viele Menschen, die damals ihre Heimat verloren haben und noch immer nicht zurück nach Hause durften. Die Natur wird noch eine ganze Weile brauchen, um sich zu erholen. Einige Leute waren stark dagegen, dass wir das Thema in einem abendfüllenden Zum Inhalt: Animationsfilm aufgreifen, der unterhalten soll. Zum Glück gab es aber auch Befürworter/-innen. Zwölf Jahre scheinen eine lange Zeit zu sein. Gerade viele junge Menschen in Japan erinnern sich nicht mehr aktiv an den 11. März 2011. Mir liegt es sehr am Herzen, dass sich wieder generationenübergreifend erinnert werden kann.

kinofenster.de: Wie groß waren die Widerstände, auf die Sie gestoßen sind?

Shinkai Makoto: Es hat niemand aktiv versucht das Projekt zu verhindern. Es ging eher um die Diskussion, den Dialog, der entstanden ist. Die japanische Gesellschaft braucht Zeit zu heilen und um die Wunde von Fukushima zu akzeptieren. Vor sieben Jahren, bei meinem Film "Your Name." war die Gesellschaft noch nicht so weit. Damals musste ich zu einem Trick greifen: In dem Film fällt ein Asteroid auf die Erde, natürlich ist das eine Metapher auf Fukushima. 2016 durfte ich das noch nicht laut aussprechen, aber ich weiß, dass das japanische Volk jetzt bereit für einen Film wie "Suzume" ist.

kinofenster.de: Der Film taucht tief in die japanische Mythologie ein. Wie groß ist das Risiko ein internationales Publikum auf diese Weise versehentlich auszuschließen?

Shinkai Makoto: Das Risiko ist immer da, aber hier ist es vermutlich nochmal etwas präsenter. Denn während wir Japaner Fukushima nie vergessen werden, wird die Erinnerung der restlichen Welt schwächer. Viele Zuschauende werden sich gar nicht mehr an das Erdbeben und seine katastrophalen Auswirkungen erinnern. Mir war also wichtig, dass die Geschichte von "Suzume" auch so funktioniert. Wenn allerdings am Ende auch nur ein Zuschauer sich erinnert oder noch besser neugierig wird und anfängt sich näher damit zu befassen, dann habe ich meinen Job richtig gemacht.

kinofenster.de: Neben der Heldin Suzume tritt im Film eine zweite Hauptfigur auf, ein junger Mann, der sich in einen dreibeinigen Stuhl verwandelt. Wie kamen Sie auf diese ungewöhnliche Figurenkonstellation?

Shinkai Makoto: Für mich steht Suzume stellvertretend für all die Kinder, die während des Erdbebens ihre Eltern verloren haben. Suzumes Weg, ihre Lebensgeschichte, ist sehr traurig und hart. Daher wollte ich ihr unbedingt einen unterhaltenden Gegenpart zur Seite stellen. Jemand oder in dem Fall wohl besser etwas, das die Stimmung auflockert: ein Stuhl mit drei Beinen. Das ist auf den ersten Blick lustig, weil seine Bewegungsabläufe chaotischer sind als die eines normalen Menschen.

kinofenster.de: Wenn Sie sagen auf den ersten Blick, steckt sicherlich mehr dahinter?

Shinkai Makoto: Ja, denn sonst wäre es ja langweilig (lacht). Der Stuhl wurde vom Tsunami mitgerissen, hat dabei ein Bein verloren. Das ist eine Metapher für die Seele von Suzume. Das fehlende Stuhlbein steht stellvertretend für ihre verstorbene Mutter. Auch Suzume hat im Tsunami ihren Halt verloren. Aber sie lernt eben im Verlauf des Films, dass man selbst mit einem schweren Verlust weiterleben kann. Weiterlachen kann. Weiterlieben kann.

kinofenster.de: Verhindert werden kann die Katastrophe im Film nur, wenn eine Tür geschlossen wird. Das ist eine starke Metapher, vor allem, wenn es um symbolische Türen zu unserer Vergangenheit geht. Suzume muss die Tür schließen, um die Erinnerungen an den Tod ihrer Mutter verarbeiten zu können.

Shinkai Makoto: In Japan heißt der Film nicht nur "Suzume" , sondern "Suzume schließt die Tür". Da liegt die Mehrdeutigkeit schon im Titel. Es geht also nicht nur darum, die Tür zu schließen, also als physischen Akt, sondern darum, jemanden zu beschützen. Unsere Hauptfigur reist durch Japan, sucht verlassene Orte, alte Ruinen und findet dort eben diese Türen, die sie schließen muss. Sie macht das, um den Boden zu besänftigen, die Natur. Und die Menschen, die dort einst wohnten. Sie stellt sich vor, was für Menschen dort vor der Katastrophe gelebt haben, wie ihr Leben ausgesehen hat. Sie kehrt zu ihren Wurzeln zurück, in ihre alte Heimat, und schließt dort die Tür, die sie zu ihrer Mutter führt. Erst dann kann sie mit ihrem eigenen Leben weitermachen, mit der Vergangenheit abschließen.

kinofenster.de: Ein zentraler Aspekt des Films ist die , die sehr dezidiert auf die Handlung abgestimmt ist.

Shinkai Makoto: Ich wollte die Stimmung des Films auch auf der Ton- und Musikebene (Glossar: Zum Inhalt: Tongestaltung/Sound-Design) haben. Dafür habe ich mit zwei Komponisten zusammen gearbeitet. Einer davon, Noda Yōjirō, ist der Leadsänger der Band Radwimps, er ist in Japan ein Rockstar. Wir haben schon bei "Your Name." zusammen gearbeitet, er schreibt die Musik für meine Filme. Nicht nur den Score, sondern auch die Songtexte. Er ist ein wahrer Poet, findet immer die richtigen Worte für die Emotionen meiner Figuren. Der zweite ist Jinnouchi Kazuma, ein japanischer Komponist, der in Seattle lebt. Er arbeitet viel für Hollywood, macht die Musik für Computerspiele. Für "Suzume" wollte ich einen Score, der gut fürs Kino funktioniert.

kinofenster.de: Es gibt im Animationsfilmbereich Regisseur/-innen, die lieber klassisch Zum Inhalt: per Hand zeichnen, andere bevorzugen die digitale Arbeit (Glossar: Zum Inhalt: Digitalisierung). Was ist Ihr Ansatz?

Shinkai Makoto: Persönlich ziehe ich das Digitale vor, aber das liegt an meiner Biografie. Ich komme ursprünglich aus der Welt der Computerspiele, ich habe schon immer digital animiert – auch wenn damals vor zwanzig Jahren, als ich angefangen habe, gerade im Anime-Bereich das meiste noch per Hand gezeichnet wurde. Das war mal Mainstream. Das ist eine alte Kunst. Leider werden die Animator/-innen, die das noch können, immer älter. Es wird wohl bald alles am Computer entstehen, einfach weil es niemanden mehr gibt, der das Analoge noch beherrscht – eine aussterbende Kunst.