Als Sonita in Rokhsareh Ghaem Maghamis gleichnamigem Zum Inhalt: Dokumentarfilm Zum Filmarchiv: "Sonita" gefragt wird, wer ihre Traumeltern wären, antwortet sie ohne zu zögern: "Rihanna und Michael Jackson." Zu Hause klebt sie ihr Gesicht auf Zeitungsausschnitte von Rihanna in glamourösen Roben. Zwischen den Lebensstilen der US-amerikanischen R'n'B-Sängerin und dem aus Afghanistan in den Iran geflüchteten und dort ohne Papiere lebenden Mädchen liegen Welten. Hier die megaerfolgreiche Diva, die in Videoclips mit Waffen und Joints posiert und sich mitunter fast nackt präsentiert, dort der von Zwangsverheiratung bedrohte Teenager, der nicht ohne Kopftuch aus dem Haus gehen darf und seinen kargen Lebensunterhalt mit Putzarbeiten verdienen muss.

Hip-Hop als Ausdruck

Rihanna (© Picture Alliance / AP Photo)

Was die beiden dennoch verbindet, ist ihr Glaube an die Ausdrucksmöglichkeiten des Hip-Hop. Rihanna verkörpert ein markantes Rollenmodell von Frauen im Hip-Hop, das auf die Strategien vieler Vorgängerinnen zurückgreift und das Sonita sich intuitiv zu eigen gemacht hat, um die Zwänge ihres eigenen Umfelds zu sprengen. Sonita mag von diesen Künstlerinnen nie etwas gehört haben. Aber es ist ihre "Ich-lasse-mir-von-niemandem-etwas-vorschreiben"-Attitüde, die sie über ihr Vorbild Rihanna begreift und die sie zum eigenständigen Handeln ermächtigt.

Denn auch wenn im Hip-Hop harte Typen dominieren, die mit großer Klappe und Bling-Bling ihre oftmals sexistische Weltsicht verbreiten, ist dies nur eine Perspektive auf eines der erfolgreichsten Genres der Popmusik. Frauen waren von Anfang an ein Teil dieser Geschichte, wie Missy Elliott in "We B*Girlz", einem Fotoband über Breakdancerinnen, festhält: "Frauen waren schon immer an vorderster Front beim Hip-Hop dabei und haben dem, was Männer gemacht haben, ihre ganz eigene Duftnote hinzugefügt und ihn sich so zu eigen gemacht."

Erfinderin des Battle Rap

Rapperinnen haben im Lauf der inzwischen über 40-jährigen Hip-Hop-Geschichte ein ganzes Arsenal an Strategien entwickelt, um sich in der Szene, die von Gewalt, Drogen, Armut, Rassismus und Sexismus geprägt ist, zu behaupten. Ihre Beiträge waren dabei nicht nur eine Reaktion auf die männlichen Kollegen, sondern durch ihren Erfindungsreichtum und eigenwilligen Zugang auch stilprägend und einflussreich. So gründete beispielsweise Sylvia Robinson mit ihrem Ehemann in New York eines der ersten und wichtigsten Hip-Hop-Labels: Sugarhill Records, auf dem 1979 der Hit "Rapper's Delight" der Sugarhill Gang erschien. Und die 14-jährige Roxanne Shanté begründete fünf Jahre später mit dem Stück "Roxanne's Revenge" die Spielart des "Battle Rap", mit dem sich die Kontrahentinnen in ritualisierten Wortgefechten in der Szene Respekt verschaffen.

Sonita, Szene (© Real Fiction)

Recht auf Selbstbestimmung

Denn neben der Thematisierung von prekären wirtschaftlichen Verhältnissen, aus denen viele Hip-Hop-Künstlerinnen (und -Künstler) stammten, ging es den Rapperinnen um die lautstarke Einforderung eines gleichberechtigten Platzes in einer von Männern dominierten Welt. Eine Möglichkeit war – wie bei Roxanne Shanté – das spielerische Kräftemessen. Doch schon bald traten Musikerinnen auch für ihr Recht auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung ein. Männer dürfen mit ihren Eroberungen protzen, Frauen gelten bei gleichem Verhalten als "Whores" (Huren) und "Bitches" (Schlampen). Shanté war die erste Rapperin, die sich die Beschimpfung "Bitch" als stolze Selbstbezeichnung aneignete.

Bling-Bling und soziales Bewusstsein

Missy Elliott (© Picture Alliance / DPA)

Die Ansätze hätten kaum unterschiedlicher sein können: Lil' Kim und Foxy Brown inszenierten sich mit extrem freizügiger Kleidung ebenso hypersexualisiert wie ihre männlichen Pendants und reduzierten ihre Körper damit in gewisser Weise zu einer Ware – über die sie allerdings eigenmächtig verfügten. Rihanna kann mit ihrer statusbewussten Glitzerversion von Hip-Hop als Erbin dieser nicht ganz jugendfreien Bling-Queens gesehen werden. Nicht weniger selbstbewusst, musikalisch jedoch weitaus avancierter und vor allem geschichtsbewusster reflektierten zur selben Zeit Lauryn Hill und Erykah Badu in ihren Texten die Lebensbedingungen afroamerikanischer Frauen und Männer zwischen alltäglichem Rassismus und Sexismus. Über allem thronte Missy Elliott, die mit futuristischen Beats und Videos das Genre sowie das Selbstbild von Hip-Hop-Künstlerinnen revolutionierte.

Weiblicher Hip-Hop in Deutschland

In Deutschland stand bei Rapperinnen lange Zeit die sozialkritische Funktion von Hip-Hop im Vordergrund. Ihre Texte handelten von gesellschaftlicher Benachteiligung und Rassismus. Die auf Türkisch und Deutsch rappende Aziza-A skandierte 1997 in ihrem Stück "Es ist Zeit": "Du bist die Ehre der Familie / klar, gehorsam, schweigsam / wie deine Mutter auch mal war (…) Frau, Mutter, Mädchen oder Kind / egal aus welchem Land sie kam / jede ein Mensch, der selbständig denken kann / verstehst du, Mann?" Im gleichen Jahr thematisierte die Hip-Hop-Pionierin Cora E. in ihrem autobiografischen Song "Schlüsselkind" die eigene prekäre Jugend. Heute ist Schwesta Ewa die erfolgreichste deutsche Rapperin, mit ihrer bewegten Biografie zwischen Rotlichtmilieu und Entzugsklinik steht sie allerdings eher in der Tradition von "Gangsta Bitches" wie Lil' Kim. Dagegen engagieren sich Underground-Stars wie die Berlinerin Sookee gegen Rassismus und Homophobie außer- und innerhalb der Hip-Hop-Szene.

So reiht sich Sonita, die aus eigener Erfahrung über Zwangsverheiratung rappt, in eine lange Traditionslinie von Künstlerinnen ein, die Hip-Hop als Sprachrohr verstehen, um sich und andere in ihren Lebensentwürfen zu bestärken. Dass sie all dieses Potenzial zur Selbstermächtigung aus den Hochglanzvideos einer Rihanna destilliert, spricht nicht nur für Sonitas rebellische Ader, sondern auch für die Universalität des Hip-Hop.

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