Bereits vor seiner Premiere bei den Filmfestspielen von Cannes 2018 wurde Zum Filmarchiv: "Rafiki" in Kenia wegen seiner Darstellung einer lesbischen Liebe verboten. Dank des weltweiten Festivalerfolges ihres Films konnte die Regisseurin Wanuri Kahiu vor dem Obersten Gerichtshof Kenias eine auf sieben Tage befristete Aufhebung der Filmzensur erwirken – eine Voraussetzung für eine Bewerbung für den Oscar®. Nominiert wurde "Rafiki" letztlich nicht, aber in kenianischen Kinos spielte er vor ausverkauften Häusern.

Queeres Kino zwischen Zensur und Mainstream

Das Beispiel zeigt, wie sehr queeres Kino noch um seine Existenzberechtigung kämpfen muss – und das nicht nur in Kenia. Zwar scheint im Westen das Queer Cinema im Mainstream angekommen zu sein, eine Selbstverständlichkeit ist es noch lange nicht. Auf Streaming-Plattformen wie im Kino sind Filme mit lesbischer, schwuler oder trans*-Thematik immer noch die Ausnahme.

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Lange Zeit prägten Stereotypen und wiederkehrende Handlungsmuster, wie der Tod der homosexuellen Figur am Ende des Films, die Repräsentation von Schwulen, Lesben und Trans*personen im Kino. Im Hollywoodkino verbot die Filmzensur des Hays Code (1930/34–1967) jahrzehntelang jegliche Schilderung von Homosexualität; Filmschaffende beschränkten sich deshalb auf subtile Anspielungen wie William Wyler in "Ben Hur" (USA 1959). In vielen Ländern unterliegt die Darstellung von Homo- oder Bisexualität auch heute noch der Zensur. Zudem erschweren erstarkender Nationalismus und religiöser Fundamentalismus weltweit den Vertrieb von Queer Cinema. So bleibt Jim Chuchus "Stories of Our Lives" (Kenia 2014) des kenianischen Nest Kollektivs trotz weltweiter Festivalerfolge weiterhin in Kenia verboten.

Jenseits der Norm: Der Begriff "queer"

"Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt." Rosa von Praunheims wegweisender Film mit diesem Titel (1971) nimmt bereits vorweg, worauf das Konzept "queer" abzielt. Einerseits als Kürzel oder Sammelbegriff für nicht-normative Sexualitäten und/oder Geschlechteridentitäten (zum Beispiel lesbisch, schwul, bisexuell und trans*) verwendet, will "queer" andererseits Prozesse von Normierung und Normalisierung kritisch hinterfragen. Seit dem 19. Jahrhundert wurde der Begriff "queer" im angelsächsischen Sprachraum abwertend, mit homo- und transphoben Konnotationen, verwendet, bis ihn sich AIDS-Aktivist*innen in den 1980er-Jahren wieder aneigneten und positiv besetzten. Queer Cinema bietet dem Publikum Erzählungen und filmische Momente jenseits der heterosexuellen Norm und jenseits von binären Geschlechtergrenzen. Insofern ist "Rafiki" ein Beispiel für die Möglichkeiten von Queer Cinema: So schildert der Film nicht nur eine lesbische Liebe, sondern durchkreuzt westliche Vorstellungen von afrikanischem Kino. Mit dem von ihr entwickelten Konzept des "Afro Bubblegum" kontert die Regisseurin Wanuri Kahiu gängige Medienrepräsentationen von bedürftigen und auf westliche Hilfe angewiesen Afrikaner*innen mit selbstbewussten, Zum Inhalt: kunterbunten und hoffnungsvollen Filmbildern.

Grenzüberschreitungen seit Beginn der Filmgeschichte

Möglichkeitsräume jenseits von normativen Geschlechtsidentitäten und heterosexuellem Begehren gestaltet das Kino seit seinen Anfängen. Vor allem in Deutschland bot das Zum Inhalt: Stummfilmkino eine überraschende Vielfalt an Repräsentationen, von internationalen Filmklassikern wie "Anders als die Anderen" (Richard Oswald, D 1919) und "Mädchen in Uniform" (Leontine Sagan, D 1931) bis zu zahllosen populären Verwechslungskomödien mit Männern in Frauenkleidern und Frauen in Hosenrollen. Ab 1968 prägt das Queer Cinema von Rainer Werner Fassbinder, Monika Treut, Werner Schroeter, Ulrike Ottinger, Rosa von Praunheim und Elfi Mikesch maßgeblich den Neuen Deutschen Film.

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Zum Inhalt: Berlin als Ort für vielfältige Grenzüberschreitungen schildern Filme wie "Westler" (Wieland Speck, BRD 1985), eine Ost-West-Liebesgeschichte in Zeiten der Mauer, die DEFA-Produktion Zum Filmarchiv: "Coming Out" (Heiner Carow, DDR 1989), "Prinz in Hölleland" (Michael Stock, D 1993) über die Bauwagenszene im Kreuzberg des Nachwende-Berlin oder Axel Ranischs Mumblecore-Überraschungserfolg "Dicke Mädchen" (D 2011). Wie sich die Kategorien Sexualität und Geschlecht mit Differenzlinien wie Klasse und Ethnizität überschneiden, zeigt Angelina Maccarone in (D 2005), in dem es eine gebildete lesbische Iranerin in die deutsche Provinz verschlägt. Zum Inhalt: Genregrenzen überschreiten die experimentellen Videoarbeiten von Michael Brynntrup, Matthias Müller, Nathalie Percellier, Ashley Hans Scheirl und Vika Kirchenbauer. Queer Cinema existiert also vom Experimentalfilm bis in den Mainstream.

New Queer Cinema

Mit dem Begriff des New Queer Cinema bezeichnet die US-amerikanische Filmkritikerin B. Ruby Rich Anfang der 1990er-Jahre eine Trendwende im US-amerikanischen Kino. Ebenso wie das deutsche Queer Cinema der 1970er- und 1980er-Jahre verweigert sich das New Queer Cinema der Forderung nach eindeutig positiven Bildern von Lesben, Schwulen und Transpersonen und wirbt nicht beim heterosexuellen Publikum um Toleranz und Akzeptanz. Im Gegenteil: Das ästhetisch und erzählerisch innovative New Queer Cinema, das formal wie thematisch in der Tradition der Avantgardefilme von Jean Genet oder Kenneth Anger steht, schildert seine Hauptfiguren gelegentlich als moralisch zwielichtige, kriminelle Gestalten. Je nach Produktionsbedingungen und finanziellen Möglichkeiten reicht die stilistische Bandbreite der Filme vom farbenprächtigen visuellen Exzess bei Derek Jarman bis zur schwarz-weiβen No-Budget-Ästhetik der Videoarbeiten von Sadie Benning.

Call Me By Your Name, Szene (© Sony Pictures Releasing GmbH)

Ästhetisch so unterschiedliche Filme wie Todd Haynes' "Poison" (USA 1991), Tom Kalins "Swoon" (USA 1991) oder Isaac Juliens "Young Soul Rebels" (GB 1991) bedienen sich einer stilisierten Formsprache voller Anachronismen und filmischer Zitate. Das New Queer Cinema inspirierte Independent-Produktionen wie Rose Troches "Go Fish" (USA 1994) oder Cheryl Dunyes "The Watermelon Woman" (USA 1997) und Dee Rees‘ "Pariah" (USA 2011) – zwei Klassiker des Black Queer Cinema –, aber auch internationale Arthouse-Erfolge wie Wong Kar-Wais "Happy Together" (Hongkong, 1997). Vermehrt spielen Trans*identitäten eine tragende Rolle, wie in Sally Potters "Orlando" (GB 1992), "Something Must Break" (2014) von Ester Martin Bergsmark aus Schweden oder "52 Tuesdays" (2013) von Sophie Hyde aus Australien.

Queeres Kino – von der Leinwand zur TV-Serie

Die Produktions- und Vertriebsbedingungen für queeres Kino sind vielfältig. Während Queer Cinema vor allem auf queeren Filmfestivals zirkuliert und von spezialisierten DVD-Verleihern vertrieben wird, lässt sich derzeit ein Wechsel von der Leinwand ins kleinere Bildschirmformat beobachten – insbesondere aufgrund der Marktsegmentierung durch das Serienformat im Pay-TV. Anbieter wie Amazon oder Netflix produzieren publikumswirksame Serien wie "Transparent" (USA, seit 2014), "Orange is the New Black" (USA, seit 2013) oder "Sense8" (USA 2015–2018). Eine subsaharische Webserie, die auf queeres Empowerment abzielt, ist "The Foxy Five" (Südafrika, 2016) mit seinen ästhetischen Einflüssen aus dem Blaxploitation-Kino. Aus einer Webserie hervorgegangen ist der Zum Inhalt: Dokumentarfilm "The Pearl of Africa" (Wallström, Uganda/Kenia 2016) über die Transfrau Cleo Kambugu aus Uganda. Dass erfolgreiche DIY-Webserien mittlerweile von kommerziellen Verleihern übernommen werden, zeigt das Beispiel der in der Berliner Queer-Szene angesiedelte "Mixed Messages" (D 2017) von Kanchi Wichmann. Die bedeutendste Plattform für Queer Cinema bieten aber immer noch die zahlreichen queeren Filmfestivals weltweit.

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