Kategorie: Hintergrund
Coming-out und Homosexualität in "Mit siebzehn"
Es geht auch anders: In "Mit siebzehn" wird deutlich, dass das Erzählen von homosexueller Identität auf die Inszenierung des Coming-outs nicht angewiesen ist.
In Zum Filmarchiv: "Mit siebzehn" erzählt Regisseur André Téchiné von der Beziehung der beiden Jugendlichen Damien und Thomas, die sich im Laufe des Films von einer beiderseitig erklärten und physisch ausgetragenen Abneigung hin zu einer Liebesgeschichte entwickelt. Da es sich bei beiden mutmaßlich um ihre erste sexuelle Beziehung handelt, wäre es nachvollziehbar, wenn "Mit siebzehn" sein dramatisches Potenzial in Thomas' und Damiens allmählichem Entdecken und anschließendem Bekennen ihrer Homosexualität verankern würde – ein typisches Thema für sogenannte Coming-out-Filme, für die in der jüngeren deutschen Filmgeschichte etwa (2004) oder Zum Filmarchiv: "Die Mitte der Welt" (2016) stehen.
Coming-out-Film mal anders
"Mit siebzehn" setzt allerdings in seiner Erzählung einer schwulen Liebe einen anderen Fokus als den der sexuellen Identität. Die Begriffe "schwul" oder "homosexuell" tauchen in den Dialogen nicht auf, die sexuelle Orientierung der beiden Jungen wird erst zur Hälfte der Handlung angedeutet. Auch fehlen andere Aspekte des Coming-out-Films völlig, wie beispielsweise die Zum Inhalt: Inszenierung einer homophoben Umwelt, gegenüber der die sexuelle Identität als Problem erscheint und verteidigt werden muss.
Stattdessen steht in "Mit siebzehn" die Darstellung der komplexen Beziehung von Damien und Thomas im Vordergrund. In dieser Beziehung werden physische Auseinandersetzungen, eine Phase scheinbar unerwiderter Verliebtheit von Damien gegenüber Thomas und schließlich die sexuelle Beziehung der beiden als unterschiedliche Aspekte ihrer aufeinander ausgerichteten Aufmerksamkeit quasi gleichwertig erzählt. Der jeweilige erzählerische Fokus wird dabei mit dem formalen Drive des Films ( Zum Inhalt: bewegliche Kamera, schnelle Zum Inhalt: Montage, physische Aktionen) verbunden: Thomas und Damien werden im Film immer wieder körperlich zueinander geführt, sie können sich nicht ausweichen und müssen sich mit ihrer gegenseitigen Anziehung auseinandersetzen.
Dass Thomas’ und Damiens Interesse füreinander (auch) erotischer Natur ist, wird erst spät im Film deutlich. Die Homosexualität der beiden Jugendlichen wird im Film allerdings im Kontext ihrer sozialen Gesamtsituation erzählt und nicht als psychosoziales Identitätsangebot präsentiert. Zwar werden beide als Außenseiter wahrgenommen, wie eine anfängliche Schulsportszene zeigt, die Ausgangspositionen für ihre sexuelle Selbstfindung sind jedoch sehr verschieden.
Thomas, Damien und ihre Homosexualität
So ist Thomas zwar in seiner Schulklasse nicht der einzige Jugendliche mit Migrationshintergrund, er ist aber als Sohn einer Bergbauernfamilie sofort als adoptiertes Kind identifizierbar, in diesem Sinne also unfreiwillig bereits "out". Im Hinblick auf die Schwangerschaft seiner Adoptivmutter problematisiert er seinen Status innerhalb der Familie ("Hoffentlich seid ihr diesmal zufrieden", sagt er kurz vor der Geburt seiner Schwester). Hinzu kommen seine anfänglich schlechten Schulnoten und schließlich auch die Schlägereien mit Damien, die ihm angelastet werden. In diesem Kontext könnte ein schwules Outing ein ohnehin problematisches Selbstbild verstärken.
Der Film zeigt Thomas' Entwicklung als Abfolge komplexer Situationen: Sein Wunsch, nicht mit Damien zusammen gesehen zu werden, deutet auf seine Angst hin, sich von seinen Adoptiveltern zu entfernen; seine Aufenthalte bei Damiens Familie vergrößern wiederum seine Chancen auf Bildung und erwidertes schwules Begehren. Die Dramaturgie des Films, ihn immer wieder mit Damien aneinander geraten zu lassen, entscheidet schließlich für Thomas: In den letzten Szenen löst Damien Thomas selbstgewählte Isolation auf dem Familienhof auf und beide küssen sich in der Natur, womit auch der letzte Raum geschlossen wird, den Thomas zur Flucht vor Damien (und seinen Gefühlen) noch hatte.
Damien wiederum wird als jemand gezeigt, der ohne Probleme zu seinem Schwulsein finden und es selbstbewusst präsentieren könnte. Seine sozial privilegierte Situation als Sohn einer Ärztin und eines Soldaten bildet für ihn ein soziales Netz, in dem er sich Anerkennung gewiss ist. Das indirekte Outing gegenüber seiner Mutter, das eigentlich nur das Eingeständnis ist, in Thomas verliebt zu sein, wird von dieser kommentarlos quittiert ("Du sagst nichts?" – "Ich habe nichts zu sagen."). In seinem Zimmer hängen Plakate mit einem androgynen David-Bowie-Motiv und vom Coming-out-Film "C.R.A.Z.Y. – Verrücktes Leben" . Trotzdem gibt er gegenüber Thomas zu: "Niemand weiß es – nur du!" Damiens Homosexualität wird in "Mit siebzehn" ausschließlich mit seinen Gefühlen für Thomas in Verbindung gebracht. Ein Date mit einem anderen Mann soll für ihn nur klären, ob es wirklich Thomas ist, den er begehrt. Auch Damien würde ein Coming-out nicht bei der Frage helfen, was mit ihm los ist – es ist seine Liebe zu Thomas, die ihn überfordert, nicht seine Homosexualität.
Ein Coming-out ist kein Muss
Allgemein wird, wie die Jugendpsychologin Meike Watzlawik festhält, unter Coming-out der Entwicklungsprozess verstanden, "durch den sich homosexuell (und bisexuell) orientierte Menschen ihrer sexuellen Präferenzen bewusst werden und in dem sie sich dazu entschließen, dieses Wissen in ihr persönliches und soziales Leben zu integrieren." Allerdings wird in immer mehr kulturwissenschaftlichen und journalistischen Beiträgen die Frage gestellt, woraus man eigentlich mit seinen sexuellen Präferenzen kommen soll und vor allem auch: was genau dieses Out – dieses Außen ist – in das man aufbrechen muss, um als selbstbewusst nicht-heterosexuell zu gelten. Das Konzept des Coming-outs wird immer über Gegensatzpaare erzählt (innen/außen, geheim/offen, versteckt/sichtbar, heimlich/selbstbewusst etc.). Damit wird einerseits die nicht-geoutete Subjektivität abgewertet (als schwach, feige etc.), andererseits die heteronormative Öffentlichkeit bestätigt, der gegenüber man "herauskommen" soll, um integriert werden zu können.
In "Mit siebzehn" hingegen wird deutlich, dass das Erzählen von homosexueller Identität auf die Inszenierung des Coming-outs nicht angewiesen ist. Gleichwohl zeichnet der Film keine gesellschaftliche Utopie, in der sich beide Jugendliche einfach outen könnten, und ihrer Liebe und ihrem Glück stünde nichts mehr im Wege. Thomas' schwules Begehren ist nur ein Aspekt von vielen in seiner Persönlichkeit, die ihn zum Opfer von Diskriminierung machen könnten. Damien will nicht allgemein als schwul identifizierbar sein, sondern will seine Gefühle für Thomas klären und ihnen vertrauen können. Die Inszenierung des Films fokussiert sich vor allem darauf, wie sich die Körper der beiden jungen Männer in einem Kraftfeld (man könnte es Pubertät nennen) bewegen und darin einander nicht ausweichen können.