Kategorie: Hintergrund
Sequenzanalyse: "In den Gängen"
Wie man Sehnsüchte im Großmarkt inszeniert
Der Großmarkt ist ein Raum, in dem Effizienz vorherrscht. Doch in der Literaturverfilmung "In den Gängen" wird er durch die Inszenierung zu einem Ort voller poetischer Momente.
Die Lebenswelt "einfacher Leute" findet im Kino meist in sozialrealistischen Filmen statt. Ihren Anspruch auf Wirklichkeitsnähe unterstreichen sie durch eine Zum Inhalt: dokumentarisch anmutende Bildästhetik, während sie ihre Protagonistinnen und Protagonisten vor allem als Opfer sozialer Verhältnisse zeigen. Thomas Stuber geht in seinem Zum Inhalt: im Großmarkt angesiedelten Drama "In den Gängen" anders vor. In dem Film, der auf einer Zum Inhalt: Kurzgeschichte des Zum Inhalt: Ko-Autoren Clemens Meyer basiert, offenbart der Regisseur zwar eine kritische Haltung gegenüber unserer Konsum- und Leistungsgesellschaft, jedoch tut er dies selten vordergründig. Stubers Interesse gilt vielmehr der wechselseitigen Durchdringung von Beruf und Privatem sowie den Versuchen seiner Charaktere, ihre Sehnsüchte in einem rationalen Umfeld zu leben. Wie geschickt Stuber in seiner Zum Inhalt: Inszenierung dabei formale Konventionen des realistischen Kinos durchbricht, um die Figuren der vermeintlichen Banalität ihres Alltags zu entheben und ihre Tragik und Größe zu zeigen, verdeutlicht folgende Sequenzanalyse.
Eine Welt im Verborgenen
Die Zum Inhalt: Sequenz gliedert sich in zwei Teile. Sie setzt ein nach einer Zigarettenpause, die Christian an seinem ersten Arbeitstag mit seinem "Lehrmeister" Bruno genommen hat. Der Ältere führt den Neuling zur Tabakausgabe, vorgeblich um ihm den Kollegen Jürgen vorzustellen – vor allem aber, um mit diesem ein unterbrochenes Schachspiel fortzusetzen. In der anschließenden Zum Inhalt: Szene ist Christian allein in die Getränkeabteilung zurückgekehrt, wo er erstmals Marion heimlich beobachtet – bis ihn Bruno ertappt.
Die erste Einstellung der Sequenz zeigt Zum Inhalt: eine Totale des Kassenbereichs Zum Inhalt: in der Aufsicht. Es ist die Perspektive einer Überwachungskamera. Sie erfasst einen vom Zum Inhalt: Neonlicht grell ausgeleuchteten Markt, in dem sich Kundschaft und Kassierer planmäßig zu verhalten scheinen – ein Eindruck, den das Raster der Deckenlampen und die Monotonie der verkaufsfördernden Zum Inhalt: Musik verstärken. Doch der seriöse Schein trügt: Nach einem Zum Inhalt: Schnitt sehen wir Bruno und Christian an der Tabakausgabe, an der Jürgen erst nach zweifachem Klingeln auftaucht. Der symmetrische Bildaufbau der Halbtotalen mit dem Fenster als Mittelpunkt bestätigt zunächst, dass hier alles seine Ordnung hat.
Das Fenstermotiv und die Anordnung der Personen erinnern jedoch an barocke Genremalereien, deren eigentlicher Bildsinn sich den Betrachtenden erst durch das Lösen eines Bilderrätsels eröffnet. Und tatsächlich: Als die Kamera wenige Einstellungen später in den Zigarettenschalter "springt", erkennen wir, dass erotische Fotografien das Ausgabefenster von innen rahmen. Ein kurzer Zum Inhalt: Schwenk nach unten offenbart zudem, dass Jürgen unter dem Tresen eine Schachpartie aufgebaut hat, zu der er Bruno einlädt. Im Geheimen existiert im Markt also eine zweite, inoffizielle Sphäre, die sich der rational organisierten Arbeitswelt widersetzt. Christian beobachtet dies mit wortlosem Staunen: Während seine älteren Kollegen ihr Spiel fortsetzen, isoliert ihn die Kamera in einer Nahaufnahme: Unschlüssig verharrt er vor dem Schalter, blickt umher, grüßt einen Kunden und wendet sich schließlich wieder der Arbeit zu.
Hintersinnige Bilderrätsel
Die anschließende Szene beginnt mit drei starren Detailaufnahmen, die ein weiteres Bilderrätsel ergeben: Ein Rückspiegel neben dem ein Stofftierhase baumelt. Schleifspuren an einem gelben Fahrzeugblech. Ein abgenutzter Fahrersitz. Dann folgt der Schnitt auf Christian, der, halbnah und eingerahmt von zwei Regalreihen frontal in Richtung der unbewegten Kamera schaut. Die nächste Einstellung zeigt ihn in Rückenansicht: Der "Neue" starrt auf einen großen Zum Inhalt: gelben Gabelstapler. Die drei Einstellungen zu Beginn lassen erahnen, was Christian an dem Transportmittel faszinieren mag: Die Gebrauchsspuren verweisen darauf, dass das Fahrzeug mehr ist als bloß eine Maschine. Für diejenigen, die den Stapler zu nutzen verstehen, ist er eine Erweiterung des Körpers, mit der sie sich im Großmarkt souverän bewegen können. Diese überragende Bedeutung des Gefährts schlägt sich visuell nieder, als sich Christian umwendet und in einer Halbtotalen auf die Kamera zugeht, welche daraufhin langsam zurückfährt. Die Apparatur scheint dabei allerdings weniger die Bewegung des jungen Mannes aufzugreifen, als vielmehr ehrfürchtig vor der Maschine zurückzuweichen, die im Mittelpunkt der zentralperspektivisch angelegten Bildkomposition verharrt. Der Gabelstapler erscheint als das Kraftzentrum im Reich der Gänge.
Die Künstlichkeit des Großmarkts
Die markante Zentralperspektive führt die totale Künstlichkeit vor Augen, die den Großmarkt als Arbeitswelt charakterisiert. Ein Entkommen, das vermittelt nicht nur diese Einstellung, gibt es für Christian ebenso wenig wie für seine Kolleginnen und Kollegen. Der Gabelstapler bietet jedoch eine kleine Flucht, eine Illusion von Freiheit. Das verdeutlicht auch der Fortgang der Szene: Unversehens wird Christian aus seiner Arbeit herausgerissen, als Wortfetzen zu ihm herüberdringen. Zwei Kolleginnen unterhalten sich im Nachbargang, während sie Süßwarenregale auffüllen. Als eine der Frauen, Marion, in den Gabelstapler steigt und diesen selbstbewusst bedient, beobachtet er sie heimlich wie gebannt.
Thomas Stuber inszeniert den Moment als Christian Marion erstmals sieht, als visuelle Zäsur: Mit einem irritierenden Achsensprung wechselt die Kamera den Standpunkt um 180°. Sie zeigt den jungen Mann nicht mehr am Rande der tiefen Regalflucht, sondern rückt ihn in den Mittelpunkt. Von der Seite nähert die Kamera sich ihm an, während er regungslos durch die Regalfächer blickt. Mit zwei Naheinstellungen übernimmt die Kamera die Perspektive des im Dunklen verborgenen Voyeurs, dessen Blicke Marion folgen, die vom Schein einer Neonröhrenleiste umstrahlt wird. Dass hier visuelle Wahrnehmung und inneres Empfinden zu einem irrealen Sehnsuchtsbild verschmelzen, verdeutlicht Stuber nicht nur, indem er Marion in Zum Inhalt: Zeitlupe zeigt, sondern auch durch einen auffälligen Bruch auf der Zum Inhalt: Tonspur. War bislang in der gesamten Szene dieselbe Hintergrundmusik zu hören, setzt nun mit Christians Beobachten ein geradezu paradiesisches Meeresrauschen ein – das schließlich jäh abbricht, als er von Bruno aus seiner Tagträumerei gerissen wird. Die Szene endet in der bekannten Zentralperspektive: Bruno klettert in den Gabelstapler, Christian stapelt wieder Getränkekisten von Hand.
Die Sehnsucht der Menschen
Wie der Gabelstapler steht auch das Meeresrauschen (und verwandte Bildmotive wie Palmenstrände oder Delfine) im Verlauf des Films sinnbildlich für die Sehnsucht der Charaktere nach einem Ausbruch aus den Alltagszwängen, die in den Gängen des Großmarkts ihren metaphorischen Ausdruck finden. Allerdings drückt sich im Willen, den Gabelstapler zu beherrschen, auch der Wunsch aus, durch die eigene Arbeitsleistung Akzeptanz und Anerkennung zu finden. So findet der Film auch sein Happyend als Marion Christian beibringt, wie man durch ein vorsichtiges Herabfahren der Gabel ein Geräusch erzeugen kann, dass sich wie ein Meeresrauschen anhört.