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"Im Westen nichts Neues" – ein Vergleich zwischen Neuverfilmung, Roman und erster Kinoadaption
Mehr als 90 Jahre liegen zwischen Lewis Milestones und Edward Bergers Adaptionen von Remarques Im Westen nichts Neues (1929). Das Buch setzen die Filme auf höchst unterschiedliche Weise um.
Fast 100 Jahre liegen zwischen der 1930 erschienenen ersten Kinoadaption von Erich Maria Remarques Buch Im Westen nichts Neues (1929) und der jüngsten Verfilmung von 2022. Die letzten Kriegsteilnehmer sind längst gestorben, der Erste Weltkrieg ist nurmehr Geschichte und spielt in der kollektiven Erinnerung in Deutschland keine besondere Rolle mehr. Zu groß ist der historische Abstand zwischen 1914-1918 und der Erfahrungswelt der heutigen Zuschauer/-innen, zu sehr wurde die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in vielen Ländern von der Erinnerung an spätere Kriege und kollektive Gewalterfahrungen überlagert, als dass das Thema des neuen Films noch Sprengkraft entfalten könnte.
Auch die Film- und Kinokultur hat sich in der Zwischenzeit verändert. Der Film von 1930 erregte in vielen Teilen der Welt öffentliches Aufsehen und verwandelte die Kinos in Orte der emotionalen Erschütterung, der lautstarken Zustimmung oder Ablehnung durch das Publikum. Nicht nur in Deutschland kam es wegen "Im Westen nichts Neues" zu Demonstrationen auf der Straße, nicht nur in Deutschland wurde der Film behördlich zensiert, weil man seine Wirkung fürchtete. Zwar ist auch der neue Film für kurze Zeit in ausgewählten Kinos zu sehen, doch primär richtet er sich an die Abonnenten des weltweit agierenden Streamingdienstes Netflix. Er wird nicht im öffentlichen, sondern im privaten Raum konsumiert.
Grundlegend unterscheiden sich die technischen Voraussetzungen der Verfilmungen von 1930 und 2022. Das zeigt sich im visuellen Erscheinungsbild samt Zum Inhalt: Mise-en-Scène, Kadrierung (Glossar: Zum Inhalt: Bildkader) und Zum Inhalt: Farbgestaltung, im Zum Inhalt: Schnitt und in der Verwendung des Tons (Glossar: Zum Inhalt: Tongestaltung/Sound-Design). Dem auf analogem Material mit schweren Kameras in Schwarz-Weiß gedrehten Film von 1930 steht eine digitale Produktion in Farbe gegenüber, aufgenommen mit Kameras, die jede erdenkliche Bewegung (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen) vollführen können. Hyperrealistische Bilder verbinden sich mit einem Sound-Design, das Dialoge, Zum Inhalt: Musik und Geräusche auf komplexe Weise verschmilzt. Der Film von 1930 stammt dagegen aus der frühen Tonfilmzeit und sprach ein Publikum an, das bis vor Kurzem nur Zum Inhalt: Stummfilme gekannt hatte. Er wurde dennoch stilbildend und prägte das mediale Bild von kriegerischer Gewalt für Jahrzehnte.
Sprachrohr einer Generation
Angesichts der offenkundigen Unterschiede zwischen den historischen, technischen und ästhetischen Entstehungsbedingungen im Jahr 1930 und im Jahr 2022 stellt sich die Frage, ob und wie sich die beiden Filme überhaupt miteinander vergleichen lassen. Wie gehen sie mit der Buchvorlage um? Remarque – ebenso wie der Film von 1930 – beginnt mit einer Erklärung: "Dieses Buch soll weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein. Es soll nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam." Sprachrohr dieser keineswegs nur deutschen Generation von Kriegsteilnehmern ist Paul Bäumer, der sich zusammen mit mehreren Mitschülern freiwillig zum Kriegsdienst meldet und an der Westfront den Glauben an seine früheren patriotischen Ideale verliert. Remarque schildert das aus Pauls Ich-Perspektive, und der Film von 1930 folgt ihm darin. Das heißt, dass die Leser/-innen beziehungsweise das Kinopublikum nicht mehr als das erfährt, was Paul erlebt und denkt. Wie das Buch hat auch die erste Verfilmung einen episodischen Aufbau und besteht aus losen Beschreibungen von Ereignissen, Erinnerungen und Reflektionen, die Paul wie in ein Tagebuch notiert. Wo es im Buch die Sprache ist, die lakonisch und ungekünstelt wirkt, da ist es im Film die szenische Ökonomie, die auf Ausschmückungen, eine bewusst bedeutungsvolle Bildgestaltung und wiederkehrende Motive fast ganz verzichtet.
Ein Rädchen im Getriebe
Die Verfilmung von 2022 löst sich von diesen erzählerischen und dramaturgischen Prämissen des Buches und des früheren Films. Statt einer einleitenden Erklärung beginnt die Netflix-Produktion mit der Totale (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen) einer unbewegten Landschaft mit Hügel, Wald und tiefhängendem Himmel zur blauen Stunde bei Tagesanbruch, Bäume im Wald, Nahaufnahmen von aneinandergeschmiegten Füchsen und dann einer Vogelperspektive (Glossar: Zum Inhalt: Kameraperspektiven) auf ein Schlachtfeld mit verstreut liegenden Leichnamen, die langsam in eine Horizontale kippt. Es folgen Bilder eines Angriffs, bei dem ein Soldat umkommt. Zu sehen ist danach, wie die Uniform des Toten eingesammelt und abtransportiert, gereinigt und repariert wird – bis sie schließlich zu der Uniform wird, die Paul Bäumer bei seiner Meldung zur Armee überreicht bekommt.
Der Film nimmt nicht mehr Pauls individuell beschränkte Perspektive ein, sondern die eines allwissenden Erzählers, den es im Buch von Remarque nicht gibt. Paul erscheint nun von Anfang als Rädchen im Getriebe, als einer, der die Uniform eines Toten trägt und das gleiche Schicksal wie dieser erleiden wird. Legt Paul im Buch und im Film von 1930 trotz seiner Verlorenheit beobachtend und reflektierend einen Bericht davon ab, was seiner Generation widerfährt, so ähnelt seine Figur 2022 jenem Automaten mit menschlichem Gesicht, von dem auch Paul im Buch spricht, zu dem er aber in den Augen des Lesers nie wird – und erst recht nicht im Film von 1930. Pauls Darstellung im Netflix-Film erinnert dagegen mitunter an einen Zombie und einen Ego-Shooter und stellt so assoziative Verbindungen zu jüngeren Produkten der Populärkultur her.
Eine hinzugefügte Parallelgeschichte
Die Einführung des allwissenden Erzählers verdeutlicht, dass der neue Film Pauls Perspektive nicht mehr teilt und sie unzureichend findet. Hinzuerfunden ist deshalb neben der Rahmung zu Beginn (die Vorgeschichte von Pauls Uniform) eine Parallelgeschichte, die im Stile des Reenactments im Geschichtsfernsehen die Waffenstillstandsverhandlungen der realen Figur Matthias Erzberger mit den Erlebnissen der fiktiven Figur Paul Bäumer verschachtelt. Neu ist ebenfalls die Figur eines einsam entscheidenden menschenverachtenden Generals. Nicht zuletzt spitzt der Film von Regisseur Edward Berger den zeitlichen Ablauf der Ereignisse im Sinne einer Spannungsdramaturgie auf einen historischen Höhepunkt zu: den Stillstand der Waffen am 11. November 1918 um 11 Uhr. Dafür fallen Teile der Geschichte weg, die im Buch und im Film von 1930 wichtig sind, etwa die Ausbildung unter dem Despoten Himmelstoß, der nächtliche Besuch bei den Französinnen in der Etappe, Pauls Heimaturlaub bei Mutter und Schwester und sein Aufenthalt im Lazarett, wo er Krankenschwestern und Nonnen begegnet. Frauen treten im neuen Film kaum noch in Erscheinung. Mehr noch als im Buch und der Erstverfilmung ist der Blick auf den Krieg auf die Situation der Männer reduziert.
Kunstfertige Bilder statt Nüchternheit
Im Bereich der Bildmotive, Musik und Erzählung setzt Edward Berger in seinem Film auf bedeutungsschwere Wiederholungen. Zweimal bricht Kat, zuletzt Pauls einzige Bezugsperson, in ein französisches Gehöft ein, um Essbares zu stehlen. Einmal kommt er davon, beim zweiten Mal wird er auf der Flucht in einem Buchenwald von einem französischen Jungen gestellt und erschossen (statt, wie im Buch, durch ein Schrapnell getötet zu werden). Wo sich im Buch Pauls Bericht aus der Ich-Perspektive durch große Klarheit und den Verzicht auf Stilisierungen auszeichnet, komponiert die Kamera im Film von 2022 mit Kunstfertigkeit und kunstwollen Bilder voller dunkler Ahnungen, die mitunter an Landschaften Caspar David Friedrichs erinnern. Das geht einher mit vielen Metaphern: die Fuchsfamilie zu Beginn; die Äste der Bäume, die sich in den Himmel recken; der Junge, der einen Mann erschießt, der sein Vater sein könnte. Immer wieder setzt die Kamera die Figuren in symmetrische Ordnungen. Ebenso oft haftet ihr Blick am Hinterkopf vorwärtsschreitender und -laufender Figuren, als wolle der Film uns in die Szenerie hineinsaugen. Diese Inszenierungsweise ist nicht etwa Paul vorbehalten, um ihm physisch nahe zu sein, sondern betrifft auch viele andere Figuren, etwa Erzberger und den General.
Verschiedene Auffassungen von Dramaturgie und Erzählhaltung
Grundlegende Unterschiede zwischen der neuen Verfilmung und Remarques Buch und dem Film von 1930 basieren auf verschiedenen Auffassungen von Zum Inhalt: Dramaturgie und Erzählhaltung. An die Stelle des lakonischen Berichts eines Chronisten tritt mit der Aktualisierung des Stoffs eine mit Bedeutung und Vorverweisen aufgeladene Geschichte, deren Dramaturgie sich deutlich von der Vorlage löst. Besonders augenfällig wird dies am Ende des neuen Films. Die nüchterne Mitteilung von Pauls Tod bei Remarque und die verstörend knappe Darstellung im Film von 1930 wird ersetzt durch eine ausgedehnte Dramatisierung, bevor die Erzählung mit einer Rahmung im doppelten Sinne abschließt: Paul wird beim letzten Angriff im Nahkampf im Unterstand tödlich verletzt, just am Tag des Waffenstillstands, nur Sekunden, bevor der Befehl "Feuer einstellen" ertönt. Streichermusik hebt an, ein Requiem, das den restlichen Minuten des Films unterlegt ist. Paul schleppt sich zum Sterben aus dem Unterstand ins Freie. Zuletzt sammelt ein junger, fast noch kindlicher Rekrut die Erkennungsmarken der Gefallenen ein, eine Aufgabe, die zuvor Paul erledigen musste. Das Schlussbild zeigt die Totale jener unbewegten Landschaft, die auch ganz zu Beginn des Films zu sehen war.
Ein Kreis schließt sich. Paul stirbt wie der frühere Besitzer seiner Uniform. Sein Schicksal steht jedoch nicht mehr für die unerzählten Schicksale der anderen. Der Film weist ihm im Gegenteil die symbolische Sonderrolle des letzten Gefallenen des Weltkrieges zu, für dessen Tod die eigens eingeführte Figur des deutschen Generals verantwortlich ist.