Kategorie: Podcast
"Die Ambivalenz der DDR wollten wir im Film zeigen"
Regisseur Ralf Kukula erklärt im Gespräch, welche Aspekte des Lebens in der DDR er und sein Co-Regisseur Matthias Bruhn in "Fritzi – Eine Wendewundergeschichte" erzählen wollten und wie sie in animierten Bildern die Wendezeit rekonstruiert haben.
Ralf Kukula, geboren 1962 in Dresden, studierte Malerei und Grafik an der Hochschule für Bildende Künste Dresden und anschließend Trickfilm an der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam-Babelsberg. Ab 1981 arbeitete er im DEFA-Studio für Trickfilme. Seit 1995 realisiert Ralf Kukula als Regisseur, Autor und Produzent zahlreiche eigene Filmprojekte, unter anderen die Kindertrickfilmserie "Die Sandmanzen" (DE 2006-2013) und "Der Mann, der noch an den Klapperstorch glaubte" (DE 2010). Zum Inhalt: Fritzi – Eine Wendewundergeschichte (DE/LU/BE/CZ 2019) ist in Co- Zum Inhalt: Regie mit dem Filmemacher Matthias Bruhn entstanden.
kinofenster.de: Herr Kukula, "Fritzi – Eine Wendewundergeschichte" erzählt von einem 12-jährigen Mädchen, das im Jahr 1989 die Massenproteste in Leipzig miterlebt. Der Film basiert auf dem Kinderbuch von Hanna Schott. Wie war der Weg vom Buch zum fertigen Film?
Ralf Kukula: Eigentlich war er relativ lang. Wenn ich zurückblicke, wann wir damit angefangen haben, liegen jetzt zehn Jahre hinter uns. Ich habe das Buch damals beim Klett Kinderbuch Verlag gesehen, als es noch in Arbeit war. Die Illustratorin Gerda Raidt kannte ich durch ein anderes Kurzfilmprojekt, das ich zuvor mit ihr gemacht hatte, und fragte sie nach diesem Projekt. Frau Osberghaus [Geschäftsführerin vom Klett Kinderbuch Verlag, Anm. d. Red.] war so nett und hat mir das Buch noch in einer Art Arbeitsfassung zum Lesen gegeben und ich war so fasziniert von diesem Buch, dass ich dachte: Daraus müsste ich einen Film machen. In diesem konkreten Fall ist es auch ein wenig anders als sonst üblich. Wir haben das Kinderbuch (Glossar: Zum Inhalt: Adaption) nicht auf Filmlänge reduzieren müssen, sondern wir haben den Stoff aufgebohrt und noch viel mehr hinzugepackt, als es im Kinderbuch selbst gibt. Es gibt im Film zum Beispiel den Hund, diese Zum Inhalt: Coming-of-Age-Geschichte zwischen Bela und Fritzi oder den Fluchtversuch an der Grenze. Das alles gibt es nicht im Kinderbuch, aber im Film.
kinofenster.de: Ein wichtiger, wenn nicht sogar der essenzielle Bestandteil des Films ist natürlich die Zeit, in der er spielt: 1989 in Leipzig. Wie haben Sie es geschafft, diese Zeit im Film auferstehen zu lassen? Wie haben Sie vor allem zu den Orten und Ereignissen, die wir im Film sehen, recherchiert?
Ralf Kukula Es war gar nicht so schwer, diese Zeit wieder auferstehen zu lassen. Erstens bin ich in der Region groß geworden. Ich komme zwar nicht aus Leipzig, sondern aus Dresden, aber die Unterschiede sind nicht so groß. Ich habe die Zeit, ich war damals Ende 20, selbst unmittelbar miterlebt und kenne natürlich auch die Zeit in der DDR davor. Insofern konnte ich mich auf mein Gedächtnis ganz gut verlassen. Zum anderen ist es auch so, dass wir gute Unterstützung hatten bei unseren Recherchen. Wir haben zum Beispiel vom Bürgerarchiv in Leipzig gute Unterstützung bekommen, auch von Fotografen und Filmemachern aus der Stadt, die uns geholfen haben bei der Recherche insbesondere für die Zum Inhalt: Sets und Zum Inhalt: Requisiten. Wir haben sehr großen Wert darauf gelegt, dass das, was wir da erzählen, wirklich authentisch und nachprüfbar ist. Und ich möchte ganz gerne, dass die Kinozuschauer/-innen, insbesondere natürlich die, die es selbst erlebt haben, sagen können: "Ja, genauso war es. Die haben es auf den Punkt getroffen."
Die DDR, das war ein Land, in dem konnte man einerseits natürlich aufgrund der Verfolgung und der Repressalien keinen anderen Wunsch hegen, als das Land zu verlassen. Das ist der eine Pol. Der andere ist, dass man durchaus in dem Land auch zufriedene und glückliche Zeiten erleben konnte. Und das wollen wir in unserem Film auch zeigen. Damit steigen wir schon in die Handlung ein, wenn die beiden Mädchen Sophie und Fritzi sich darüber unterhalten, wie es ist, in den Westen zu fahren. Sie drücken so ihr Fernweh, ihre Sehnsucht nach dem Fremden aus. Aber gleichzeitig stellen sie fest, dass sie sich an ihrem Lebensort – wo sie wohnen und leben, also in Leipzig, im Hinterhaus mit dem kleinen Baumhaus – eigentlich auch sehr wohl fühlen. Diese Ambivalenz wollten wir im Film gerne zeigen.
kinofenster.de: Kinder, die heute im Kino den Film sehen, kennen die DDR nur noch aus den Erinnerungen ihrer Eltern oder Großeltern. Warum ist es so wichtig, Kindern diese Geschichte zu vermitteln?
Ralf Kukula: Dass die heutige Generation in Deutschland so leben kann, wie sie lebt, ist ganz maßgeblich durch die Ereignisse 1989 beeinflusst. Vielen ist dies nicht bewusst. Dass Deutschland wieder zusammenwachsen konnte, dass der Kalte Krieg beendet wurde – das ist etwas, das vor allem Kinder im Alltag nicht so unmittelbar und bewusst spüren. Stellen wir uns doch einfach mal vor, die beiden deutschen Staaten würden heute noch nebeneinander existieren: wie die Welt dann aussähe. Deswegen glaube ich, ist es ganz wichtig, es der heutigen Kindergeneration nahezubringen, die noch nicht durch die Schule weiß, was 1989 passiert ist – unsere Hauptzielgruppe ist zwischen acht und zwölf Jahre alt. Das ist, glaube ich, eine Art Lebensnotwendigkeit, um sich in der heutigen Welt zurechtzufinden. Wir erleben aktuell eine Entwicklung, in der Mauern wieder errichtet werden und gerade der Umgang miteinander respektlos geworden ist. Ich muss sagen, die wichtigste und tollste Erfahrung, die ich 1989 gesammelt habe oder sammeln dufte, war, dass es einen Aufbruch gab und die Menschen aufeinander zugegangen sind mit Vertrauen, mit Zuneigung und mit Respekt. Das war ein kurzes Zeitfenster und ich glaube, es ist eine kostbare Erfahrung, die meine Generation machen durfte. Diese Erfahrung in irgendeiner Form der nächsten oder übernächsten Generation weiterzugeben, ist auch ein Grund, warum ich den Film gemacht habe.
kinofenster.de: Der Film ist sehr detailgetreu und vermittelt für mich auch die Atmosphäre der damaligen Zeit. Wie haben Sie die Animation angelegt? Wie würden Sie Ihr visuelles Konzept für den Film beschreiben?
Ralf Kukula: Die Animation wirkt auf den ersten Blick sehr realistisch und anders, als man es aus den zeitgenössischen Zum Inhalt: Animationsfilmen kennt – aber nicht nur, weil wir in 2D animieren und nicht wie jetzt überwiegend üblich in 3D (Glossar: Zum Inhalt: 3D-Technik/Stereoskopie). Vielmehr haben wir versucht, den Animatoren nahezubringen, mal das, was gemeinhin in der Schule gelehrt wird – diesen Disney-Stil – fallen zu lassen und gerade an die Figuren realistisch heranzugehen. Das war uns besonders wichtig, weil unser Film im Gegensatz zu der Masse der Animationsfilme ein Zum Inhalt: Drama ist. Man könnte den Film auch als Realfilm realisieren. Aber wir wollten mit unseren Mitteln der Animation eine Geschichte erzählen, die sehr stark an der Realität dran ist. Demzufolge muss die Animation dafür wie eine Referenz sein, also im Stil dazu passen. Wir haben zwar in der Gestaltung Reduktionen vorgenommen, aber immer so, dass man wiedererkennt, wo wir sind, wer es ist und was er oder sie tut. Es ist ein Animationsstil, der in Deutschland eigentlich keine Tradition hat, diesen Stil kennt man eher aus Frankreich, den Benelux-Staaten oder aus Japan. Wir haben aber diesen Stil gewählt, weil wir denken, dass er zu unserer Geschichte unmittelbar passt.
kinofenster.de: Sie haben es eingangs schon grob beschrieben, als es um den Weg vom Buch zum Film ging. Trotzdem noch einmal konkreter nachgefragt: Wie nah wollten Sie an dem Buch dranbleiben? Wie wichtig war es Ihnen als Vorlage?
Ralf Kukula: Das Kinderbuch hat etwas ganz Verdienstvolles geleistet. Es hat sich nämlich erstmalig mit diesem Thema für eine sehr junge Zielgruppe auseinandergesetzt. Das Kinderbuch selbst basiert auf Protokollen, Aufzeichnungen und Interviews mit Kindern und Erwachsenen aus Leipzig, die diese Zeit direkt erlebt haben. Es ist zwar fiktional, aber manchmal mutet es trotzdem fast wie ein Sachbuch an. Es ist also sehr stark der Realität verhaftet, fast dokumentarisch. Für uns war das eine tolle Ausgangslage, was die Fakten betrifft, was das Setting betrifft, die Figuren und so weiter. Als Filmvorlage war es aber nur bedingt geeignet. Es musste also dramaturgisch entsprechend bearbeitet und angereichert werden. Wie ich es schon beschrieben habe, haben wir viele Dinge dazuerfunden, weil wir glauben, wir müssen die Kinder von heute, die andere Sehgewohnheiten haben, mit auf eine Reise nehmen. Wir verkaufen sozusagen den geschichtlichen Hintergrund, der eigentlich mehr die Welt der Erwachsenen ist, mit einer Reise, einer Coming-of-Age-Geschichte von Fritzi durch dieses Abenteuer. Und zusätzlich haben wir diese Erzählebene der Schulklasse, wo wir den Widerstand gegenüber der Lehrerin gut als eine Spiegelung der Ereignisse auf der Straße zeigen können. So können wir für Kinder extrem gut nachvollziehbar machen, wie es damals war und wie es Kindern damals ging.
Wir setzen auch stark auf Emotionen, weil wir denken, dass wir mit unserem Film nicht Geschichtsunterricht betreiben müssen. Fakten kommen zwar vor, aber sie tragen nicht im Wesentlichen unser Konzept, sondern sie sind so eingebunden, dass man das Gefühl hat: Hier wird man auf eine tolle emotionale Reise mitgenommen und hat nebenbei noch etwas gelernt.
kinofenster.de: Der Höhepunkt dieser emotionalen Reise ist natürlich der Moment, in dem sich die beiden Mädchen am Tag des Mauerfalls in die Arme fallen. Warum enden Wendefilme immer mit dem Mauerfall?
Ralf Kukula: Unser Film hat ja mehrere Höhepunkte. Wenn man es ganz genau sieht, ist der eigentliche Höhepunkt der Sieg auf der Straße. Das ist der 9. Oktober 1989, die große Demonstration in Leipzig. Das ist auch der Tag, der allgemein als Tag der Wende bezeichnet wird. Dieser 9. Oktober ist zwar auch ein Höhepunkt in unserem Film, aber wir zeigen auch, dass das Problem damit für Fritzi nicht gelöst ist, denn der Hund ist noch da und sie ist noch nicht bei Sophie. Also müssen wir die Geschichte weitererzählen. Der Spannungsbogen beginnt bei uns mit der Trennung der beiden Mädchen in den Sommerferien 1989 und er schließt sich, als sich die Mädchen wieder in die Arme schließen können. Das hat eine dramaturgische Logik (Glossar: Zum Inhalt: Dramaturgie). Wir haben das melodramatisch überhöht und an die Grenze verlegt. Das hat etwas Wundersames, Märchenhaftes. Der Film heiß ja auch "Fritzi – Eine Wendewundergeschichte" und hier bedienen wir diesen Begriff "Wunder" mit einer gewissen melodramatischen Zuspitzung (Glossar: Zum Inhalt: Melodram). Das leisten wir uns. An der Grenze geht die Sonne auf, denn die Sonne geht bekanntlich im Osten auf. So haben wir alles an der Grenze zusammengeführt – und filmdramaturgisch ist das der beste Schluss, den man sich denken kann.