Kategorie: Interview
"Wir können den Film nun in einer Fassung zeigen, in der ihn die Leute seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben."
Ein Gespräch mit der Restauratorin Anke Wilkening über ihre Arbeit an dem Film Das Cabinet des Dr. Caligari.
Ein Gespräch mit der Restauratorin Anke Wilkening über ihre Arbeit an dem Film "Das Cabinet des Dr. Caligari" .
Die Friedrich-Murnau-Stiftung hat den expressionistischen Stummfilm Zum Filmarchiv: "Das Cabinet des Dr. Caligari" (Robert Wiene, Deutschland 1920) restauriert und damit einen der bedeutendsten Filmklassiker. Die digital restaurierte Fassung feiert während der diesjährigen Berlinale ihre Weltpremiere. kinofenster.de hat mit der Restauratorin Anke Wilkening über ihre Arbeit an diesem Film gesprochen.
Frau Wilkening, Sie sind Filmrestauratorin bei der Murnau-Stiftung. Wie kamen Sie zu diesem Beruf?
Eine klassische Ausbildung wie in anderen Restaurierungsdisziplinen gibt es für den Film nicht. Ich habe meinen Magister in Filmwissenschaften gemacht und währenddessen bereits Praktika in Filmarchiven absolviert. Da bin ich zum ersten Mal mit dem Thema in Berührung gekommen. Meine Magisterarbeit habe ich dann über die Rekonstruktion eines Stummfilms geschrieben. Meine Aufgaben bei der Murnau-Stiftung sind aber sehr vielseitig. So bin ich auch für die Digitalisierung und die Produktion von DVDs zuständig.
Sie haben "Das Cabinet des Dr. Caligari" restauriert. Auf welche Filmelemente konnten Sie dabei zurückgreifen?
Wir konnten erstmals das sehr gut erhaltene Originalnegativ aus dem Bestand des Bundesarchiv-Filmarchiv benutzen. Dazu kamen zwei Kopien aus dem lateinamerikanischen Verleih, eine Kopie aus der Cinémathèque Française, eine vom British Film Institute, eine aus der Cinémathèque Royale in Brüssel und eine aus dem MoMA New York.
Dass ein Kameranegativ aus der Stummfilmzeit bis heute überlebt hat, kommt eher selten vor. Galt das Negativ von "Das Cabinet des Dr. Caligari" jemals als verschollen?
Ein Kameranegativ aus der Stummfilm-Ära zur Verfügung zu haben, ist bei einer Restaurierung natürlich ein Riesenglück. Im Fall von "Caligari" ist der Weg des Kameranegativs relativ gut nachvollziehbar. Spuren am Negativ deuten darauf hin, dass es schon in den 1920er-Jahren für den Export ins Ausland verschickt wurde, damit ausländische Verleiher eigene Kopien ziehen konnten. Das finde ich an sich schon bemerkenswert, weil es sich um das einzige Kameranegativ handelt. Große Stummfilme wurden gewöhnlich mit zwei Kameras gedreht, wovon eine Version für den Export bestimmt war. Dieser Umstand verrät andererseits auch einiges über die deutsche Filmindustrie in jenen Jahren, die allein für den heimischen Markt produzierte. In den 30er-Jahren wanderte das Kameranegativ von "Caligari" dann in das Reichsfilmarchiv. 1945 ging es als Beutegut nach Moskau, wo es bis Anfang der 1970er im Archiv von Gosfilmofond lag. 1972 wurde es dann an das Staatliche Filmarchiv der DDR rücküberführt. Mit der Zusammenführung der beiden Filmarchive landete es Anfang der 90er-Jahre im Bundesarchiv-Filmarchiv.
Ihre Restaurierung basiert also auf dem Kameranegativ. Welche Schäden haben Sie mit digitalen Mitteln behoben?
Da sich das Kameranegativ in einem erstaunlich guten Zustand befand, mussten wir hier kaum eingreifen. Zwei Akte wiesen starke Schäden an der Perforation auf, die wir reparieren mussten, um beim Scannen einen stabilen Bildstand zu gewährleisten. Das ist wichtig, denn Fehler beim Scannen lassen sich digital nur sehr aufwendig korrigieren. Nach dem Scannen wurde ein sehr schwacher Schmutzfilter eingesetzt, weil wir verhindern wollten, dass der Film nach der Restaurierung zu sauber aussieht. Trotzdem wirkt der Film, als wäre er erst gestern gedreht worden – so gut ist der Zustand des Negativs.
Sie gingen bei der Restaurierung also eher zurückhaltend vor?
Zumindest, was die digitalen Eingriffe im Scan von dem Kameranegativ selbst betrifft. Für einige Teile, die aus anderen Quellen ergänzt wurden, haben wir uns relativ weit vorgewagt. So hat das Kameranegativ bei fast jeder zweiten Einstellung einen Bildsprung, weil manchmal bis zu 20 Bilder fehlen. Hier konnten wir uns mit drei Kopien behelfen, die schon 1923 entstanden waren und noch vom unbeschädigten Negativ umkopiert worden waren. Wir entschieden also, größere Fehlstellen mit Bildern aus anderen Kopien "aufzufüllen" und mit Hilfe von Bildcomposits so weit wie möglich an die Qualität des Negativs anzugleichen. Diese Arbeit ist vor allem dann wichtig, wenn fehlende Bilder den Rhythmus einer Szene stören.
Der Film wurde bereits dreimal restauriert. Inwiefern unterscheidet sich Ihre Fassung von den vorherigen?
Spektakuläre Entdeckungen wie bei Zum Filmarchiv: "Metropolis" können wir nicht vermelden. Zunächst haben wir erstmals auf das Kameranegativ zurückgreifen können, was die Bildqualität unserer Restaurierung gegenüber älteren deutlich verbessert. Außerdem haben wir im Kameranegativ viele Zwischentitel entdeckt, die bisher nur in einer 16mm-Kopie überliefert waren. Insgesamt wirkt der Film jetzt stimmiger, auch wenn man mit geübtem Auge erkennen kann, welche Teile aus einer Kopie stammen und welche vom Kameranegativ. Der Qualitätsunterschied, was Kontrast, Graustufen und Detailzeichnungen angeht, ist einfach zu groß.
Die großen Restaurierungen der letzten zwanzig Jahre haben viel zum besseren Verständnis der Stummfilmära beigetragen. Haben Restaurierungen auch eine pädagogische Funktion?
"Caligari" ist von der Filmgeschichte schwer belastet. Allein die Interpretation von Siegfried Kracauer in seinem Buch "Von Caligari zu Hitler" hat dem Film eine historische Verantwortung aufgebürdet, die ein Film allein unmöglich tragen kann. Aus Kracauers Situation und Entstehungszeit des Buches heraus betrachtet, ist seine Argumentation sicher nachvollziehbar. Ich verstehe hingegen nicht, warum mehrere Generationen von Filmtheoretikern diese Interpretation unhinterfragt abgeschrieben haben. Darum bin ich glücklich, dass wir nun in der Lage sind, den Film in einer Fassung aufzuführen, in der ihn die Leute seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben. Dafür, dass "Das Cabinet des Dr. Caligari" diesen Klassikerstatus besitzt, kursierten eigentlich schon viel zu lange Kopien in minderer Qualität. Dieses angestaubte Image ist ja lange Zeit ein generelles Problem des Stummfilms gewesen.
Ernst Szebedits, Vorstand der Murnau-Stiftung, meinte kürzlich, dass derartige Groß-Restaurierungen einen öffentlichen Fokus auf das Filmerbe legen. Nun war "Das Cabinet des Dr. Caligari" nie ein bedrohtes Filmwerk. Welchen Beitrag kann ihre Restaurierung dennoch leisten?
Das hat sicher auch viel mit den Präsentationsformen zu tun. So haben Filmkonzerte den Stummfilm für ein breiteres Publikum geöffnet. Diese Vermittlungsleistung darf man nicht unterschätzen. Es ist eine traurige Tatsache, dass der Film in Deutschland nicht zur Hochkultur zählt – entsprechend wird er auch in der Kulturförderung behandelt. Insofern müssen immer wieder die Klassiker Aufmerksamkeit generieren. Im Stummfilmbereich gibt es sicher noch ganz andere Filme, die ebenso eine Wiederentdeckung verdient hätten.
Es ist in letzter Zeit viel über den Zustand des deutschen Filmerbes geschrieben worden. Wie bedroht ist das Filmerbe?
Aufgrund der geringen finanziellen Ausstattung – in den letzten zwei Jahren betrugen die Fördermittel jeweils zwei Millionen Euro – bleibt den deutschen Filmarchiven und Kinematheken derzeit gar nichts anderes übrig, als sich auf die Klassiker zu konzentrieren. Bei der Diskussion um die Digitalisierung darf man zwei Dinge nicht durcheinanderbringen. Die Digitalisierung gewährleistet zunächst einmal nur, dass historische Filme im Zuge der Umstellung auf Digitaltechnik auch zukünftig in den Kinos gezeigt werden können und für die Auswertung im Fernsehen und auf DVD beziehungsweise Blu-Ray zur Verfügung stehen. Damit ist das Filmerbe in seiner analogen Form, also die Negative und historischen Kopien, aber noch lange nicht gerettet.
Wird Ihnen, wenn Sie ein fast hundert Jahre altes Filmnegativ in den Händen halten, die historische Tragweite Ihrer Tätigkeit bewusst?
Ich befinde mich in einer sehr privilegierten Situation. Während andere Film in Büchern studieren, darf ich mit den historischen Dokumenten arbeiten. Ich entdecke in dem Material physische Eigenschaften, die in der Filmforschung bislang gänzlich vernachlässigt wurden. Dieser materielle Aspekt des Films darf auch im digitalen Zeitalter nicht verloren gehen.