Kategorie: Filmbesprechung
"Boyhood"
Der US-Independentfilm "Boyhood" wagt ein faszinierendes Spiel mit der Zeit: das Porträt eines Jungen über zwölf Jahre hinweg.
Unterrichtsfächer
Thema
Einen Arm ausgestreckt, einen Arm hinter dem Kopf verschränkt, liegt der sechsjährige Mason in einer saftig-grünen Wiese und blickt nachdenklich-verträumt in den Himmel. Während die Kamera sich langsam über ihm in die Höhe erhebt, sind die ersten Takte des Coldplay-Songs "Yellow" zu hören: "Sieh dir an, wie die Sterne für dich scheinen und für alles, was du tust", heißt es in diesem. Wir befinden uns im Sommer des Jahres 2002 – und werden die Entwicklung von Mason von nun an über den Lauf von zwölf Jahren begleiten.
Fiktives Leben in Echtzeit
Zwölf Jahre Handlungszeit entsprechen in dem filmischen Experiment von Richard Linklater tatsächlich auch zwölf Jahren Drehzeit. In "Boyhood" , von 2002 bis 2013 auf 35mm-Filmmaterial gedreht, wird die Hauptrolle nicht von mehreren Darstellern gespielt. Ellar Coltraine verkörpert Mason stattdessen über die gesamte Laufzeit des fiktiv angelegten Spielfilms hinweg und entwickelt sich mit diesem vom Kind zum jungen Erwachsenen. Auch die anderen Kernschauspieler/innen – Patricia Arquette als Masons Mutter, Ethan Hawke als Masons Vater und Lorelei Linklater als Masons Schwester – werden vor der Kamera real älter. Das Spielfilmprojekt, dessen Konzept an Langzeitdokumentationen wie "Die Kinder von Golzow" (DDR/Deutschland, 1961-2007) erinnert, entstand auf der Grundlage eines groben Strukturplans der Handlung, die jährlich an drei bis vier Tagen auch in Zusammenarbeit mit den Darstellern/innen ausgearbeitet und gedreht wurde und aus der schließlich durch die Vermischung Zum Inhalt: dokumentarischer und fiktiver Elemente im Spiegel der real vergehenden Zeit und ihrer Moden ein ungewöhnlicher Zum Inhalt: Coming-of-Age-Film geworden ist.
In Momenten zum Lebensweg
In "Boyhood" steht kein klassischer Plot im Mittelpunkt, der den Prozess des Erwachsenwerdens auf bedeutende Ereignisse und Erfahrungen reduziert, in dem jede Szene als Vorbereitung für eine spätere dient und die Dramaturgie nur aus so genannten setups und payoffs besteht. Stattdessen nimmt Linklater sich die Freiheit, seinen Blick nur jeweils auf den Augenblick zu richten, und entfaltet dadurch ein atmosphärisches Mosaik alltäglicher Erlebnisse und Momente, die letztlich jedoch Masons Biografie formen und ihn zu dem jungen Mann machen, der am Ende des Films zu sehen ist. So folgt die Handlung dem Lebensweg des verträumten Jungen aus Texas, der sich mit seinem Freund neugierig Unterwäschemodels in Versandhauskatalogen ansieht, zum Teenager, der allmählich seinen Weg findet, schließlich von zu Hause auszieht und sein Leben selbst in die Hand nimmt.
Scheidungskind zwischen zwei Elternteilen
Vor allem Masons Familie spielt eine große Rolle für seine Identitätsentwicklung. "Boyhood" setzt ein, als Mason und seine zwei Jahre ältere Schwester Samantha kurz vor einem Umzug stehen, weil ihre allein erziehende Mutter Olivia ihre Karriere vorantreiben möchte. Just zu diesem Zeitpunkt jedoch taucht auch Masons Vater wieder auf, ein freigeistiger Lebemann und Musiker, der zuvor einige Jahre in Alaska verbracht hat. Auch er will wieder mehr Zeit mit seinen Kindern verbringen, obwohl er selbst anscheinend noch nicht so richtig im Erwachsenenleben angekommen ist. Fortan pendelt Mason stets zwischen seinen Elternteilen. Er beobachtet, wie seine verantwortungsvolle und fürsorgliche Mutter sich stets mit den falschen Männern einlässt – einmal sogar mit einem Alkoholiker, vor dem die Familie in einer hektischen Szene regelrecht fliehen muss – oder wie sich sein Vater zunehmend vom Pop-Philosophen zum neuen, weniger rebellischen Familienvater wandelt. Unterdessen erlebt Mason selbst die erste Liebe und den ersten Trennungsschmerz, stürzt auf Partys ab und erkennt nach und nach auch seine eigenen Talente.
Leichtigkeit und Authentizität
Wie frühere Filme Linklaters ( Zum Inhalt: s. Hintergrund) zeichnet sich auch dieser durch seinen geradezu philosophischen Blick auf Biografien und Prägungen aus, weil er ganz unaufdringlich nach dem Kern dessen sucht, was ein individuelles Leben am Ende ausmacht, das scheinbar Belanglose zum Mittelpunkt seiner Handlung erhebt und dessen Bedeutung herausstellt. Im Vergleich zu diesem Ansatz wirken viele andere Zum Inhalt: Filmbiografien, die die unterschiedlichen Lebensphasen ihrer Protagonisten/innen mit unterschiedlichen Schauspielern/innen besetzen und zudem jegliches Zeitkolorit mühsam rekonstruieren müssen, sehr künstlich. "Boyhood" hingegen versprüht eine lebendige Leichtigkeit und Authentizität, wie sie im Kino – vor allem in fiktiven Erzählformen – sehr selten ist.
Alles fließt
Zugunsten fließender, weicher Übergänge zwischen den Zum Inhalt: Sequenzen verzichtet der Film auf explizite Zeitangaben. Der Wandel der Zeit vermittelt sich stattdessen über die sichtbare Veränderung der Darsteller/innen, ihrer Mode und Frisuren sowie des gesellschaftspolitischen Umfelds. Wie beiläufig entwickelt sich so ein Porträt der US-amerikanischen Gesellschaft der Nullerjahre, nicht zuletzt der amerikanischen Mittelschichtsfamilie in einer von Krisen und Unsicherheit geprägten Zeit. Doch die vielleicht prägende Rolle spielt, wie in den Jugendfilmen von Linklater üblich, die Musik. Stets gibt auch der Zum Inhalt: Soundtrack durch die meist aus dem Indie-Segment stammende Musikauswahl dem Publikum Hinweise auf die jeweilige Handlungszeit und charakterisiert nebenbei auch die Hauptfigur des Films. So gehört der letzte Kommentar zu Masons Entwicklung etwa dem neueren Song "Deep Blue" von Arcade Fire: "Hier ist meine Zeit und mein Ort. Und hier in meiner eigenen Haut kann ich endlich anfangen."