Musik spielt in den Filmen von Felix Van Groeningen eine zentrale Rolle. Sie dient nicht allein der stimmungsvollen Untermalung, sondern ist wesentlicher Lebensinhalt seiner Protagonisten. In seinem mehrfach ausgezeichneten Drama Zum Filmarchiv: "The Broken Circle" ("The Broken Circle Breakdown" , BE/NL 2012) spiegelt sich der Kreislauf des Lebens und Sterbens in der Country-Spielart Bluegrass, die das Musikerpaar Elise und Didier auf und jenseits der Bühne verbindet. In "Café Belgica" (BE/FR 2016) feiern ausgedehnte Musik-Montagen die rauschhaften Nächte in der gleichnamigen Konzertbar.

Zum Filmarchiv: "Beautiful Boy" (USA 2018), benannt nach einem Song von John Lennon, ist Van Groeningens erster Film, der ohne eigenständige Kompositionen (Glossar: Zum Inhalt: Filmmusik) auskommt. Das Drogen-Drama um die Entfremdung zwischen Vater und Sohn verlässt sich ganz auf vorhandene Musikstücke. Im Sinne eines klassischen Soundtracks verdeutlichen sie die wechselvolle Beziehung der Hauptfiguren David und Nic. Wie in "The Broken Circle" erfüllen die Musik-Montagen aber auch einen narrativen Zweck, indem sie der nicht-chronologischen Erzählweise Struktur verleihen. Als dialoglose Zum Inhalt: Sequenzen mit assoziativ wirkendem Schnitt (Glossar: Zum Inhalt: Montage) bilden sie kleine, in sich abgeschlossene Dramen, eingebettet in die Grundstruktur des Films.

Svefn-G-Englar – Sigur Rós: Harmonie im glücklichen Rausch

Exemplarisch deutlich wird diese doppelte Funktion am Stück Svefn-G-Englar (1999) der isländischen Elektronikband Sigur Rós. In den voll ausgespielten zehn Minuten des Songs vollzieht sich Nics erster Kontakt mit harten Drogen. Auf dem Uni-Campus lernt er als Studienanfänger eine junge Frau kennen und scheint sich in einem Glückszustand zu befinden. In der Wohnung von Freunden stößt er auf ein Fläschchen Tabletten, nach deren Einnahme er sich noch gelöster fühlt. Anderntags recherchiert Nic am Computer der Universitätsbibliothek so gewissenhaft wie nüchtern die Einnahmemöglichkeiten von Crystal Meth oder Heroin. Zum großen Tusch von Svefn-G-Englar, dem einzigen "Knalleffekt" des Stücks, setzt er sich schließlich den ersten Schuss. Die innere Euphorie korrespondiert auch weiterhin mit der Musik: Der eher getragen beginnende, zwischen leise-introspektiven und orchestralen Elementen oszillierende Song steigert sich zur rauschhaften Hymne; die mit Halleffekten versetzten, ätherisch fließenden Klänge und der isländische Gesang versinnbildlichen die bewusstseinsverändernde Wirkung der Droge. Wenn die Musik zu harmonischen Bildern eines wieder nüchternen Nic im Spiel mit seinen Halbgeschwistern langsam ausklingt, ist der Junge einem fatalen Irrtum erlegen: Er glaubt, die Droge kontrollieren zu können, und jenen entrückten Schwebezustand, der in der Musik zum Ausdruck kommt, jederzeit wiederholen zu können.

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Territorial Pissings – Nirvana: Wut und Verzweiflung der Grunge-Ära

Während Hymnen und leise Balladen den Soundtrack dominieren, entspricht die Verwendung von Territorial Pissings (1991) der Band Nirvana eher dem klassischen Muster eines "Drogenfilms". Mit seinen fast ausnahmslos von Wut und Selbstzweifeln handelnden Songs wurde ihr Sänger Kurt Cobain, der sich 1994 das Leben nahm, zum Jugendidol der Grunge-Ära – dem Zeitpunkt der Handlung. Nirvana-Poster schmücken auch Nics Zimmer. In der Musiksequenz sind, im suggestiven Wechsel, Bilder des kleinen und des erwachsenen, bereits drogenabhängigen Nic zu sehen. Die Stimmung ist keineswegs einheitlich: Auf dem Beifahrersitz des Autos seines amüsierten Vaters rockt der etwa 12-jährige Nic begeistert zu den Gitarrenriffs aus dem Autoradio. Kurz darauf hat David seinen von Drogen benommenen Sohn im Regen gefunden und bringt ihn zu seinem Auto, wo sich Nic übergeben muss. In nur zwei Minuten durchläuft die Zum Inhalt: Szene verschiedenste emotionale Facetten ihrer Beziehung. Der Text mit der endlos wiederholten Refrainzeile "Gotta find a way, a better way, I'd better wait" bringt Nics Sinnsuche und Orientierungslosigkeit überdeutlich auf den Punkt.

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Sunrise, Sunset – Perry Como: schmerzhafte Abschiedsballade

In ihrer zeitlichen Zuordnung sind die Stücke nicht zwingend auf Vater oder Sohn zugeschnitten. Während das Titelstück Beautiful Boy von Ex-Beatle John Lennon Davids Gefühle für seinen Sohn illustriert, sieht man zu Neil Youngs Hippie-Ballade Heart of Gold, erschienen im Jahr 1972, nur Szenen aus Nics Leben. Perry Comos Version des Songs Sunrise, Sunset (1968) verweist wiederum eindeutig auf die Erfahrungswelt des Vaters. Im Original für das beliebte Zum Inhalt: Musical Anatevka (1964) verfasst, beschreibt das Lied die elterliche Verwunderung über das Großwerden der eigenen Kinder. Die entsprechende Musik-Montage allerdings macht aus der milden Wehmut einen schmerzhaften Bruch. Während Como in der Rolle des liebenden Vaters von dem kleinen Mädchen singt, das er eben noch auf dem Arm trug, ist Nic nicht mehr zu sehen. Stattdessen stehen nun seine kleinen Halbgeschwister im Mittelpunkt. Die Familienbilder gleichen vorigen Szenen mit Nic. Auf der jüngeren Generation ruhen jetzt die Hoffnungen. David, der in diesen Aufnahmen traurig wirkt, befindet sich in einem Ablösungsprozess, am frustrierenden Ende seiner Bemühungen. Den einstigen "schönen Jungen" mit dem "Herzen aus Gold" gibt es nicht mehr. Symbolisch wirkende Stillbilder eines Wasserspeiers und eines Windspiels im Garten, mit denen die Sequenz endet, künden von einer Leerstelle, die nicht mehr gefüllt wird. Kurz darauf wird David seinem Sohn die Unterstützung entziehen.

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Musik und Rausch: eine "Ästhetisierung" der Drogenerfahrung?

Wie in den vorigen Filmen Van Groeningens unterstützen die vom belgischen Editor Nico Leunen gestalteten Musik-Montagen jederzeit die Handlung des Films und markieren deren wichtigste Stationen. Dennoch kann diese "Ästhetisierung" der Drogenerfahrung in "Beautiful Boy" auch hinterfragt werden. Gelegentlich scheint der harmonische Wohlklang einiger Songs, visuell unterstützt durch schwelgerische Zum Inhalt: Zeitlupen, eher einem Wunschdenken von Vater und Sohn zu entsprechen als tatsächlich erlebter Realität. Lassen die Bilder keinen Zweifel am Schmerz einer auseinanderbrechenden Familie, spricht aus der audiovisuellen Aufarbeitung bereits der Wille zu Versöhnung und Neuanfang. Die Musik in Van Groeningens Film löst das schwierige Thema nicht in Wohlgefallen auf, aber sie transportiert doch vor allem Hoffnung – die Hoffnung, dass auch eine schwere Zeit einmal enden kann wie ein gut gewählter Song mit dem letzten Akkord.

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