Wichtiger Hinweis:

Dieser Text ist eine gekürzte Version des Artikels "Rassenordnung als Machtordnung. Diskriminierung im Bildungs- und Rechtssystem der USA" von Prof. Dr. Astrid Franke. Er ist im März 2018 im bpb-Magazin "Aus Politik und Zeitgeschichte" erschienen. Den vollständigen Artikel inklusive der Quellennachweise kann man Zum externen Inhalt: hier auf bpb.de (öffnet im neuen Tab) nachlesen.

Die Komplizenschaft des US-Rechtssystems mit der Rassenordnung – sowohl im engeren Sinne der Gerichtsbarkeit als auch im weiteren Sinne unter Einschluss von Polizei und Gefängnissen –, gerät immer wieder in den Blick einer breiten Öffentlichkeit: Amnesty International etwa wies 2003 anlässlich der 300. Hinrichtung eines Afroamerikaners seit Wiedereinführung der Todesstrafe 1977 darauf hin, dass Schwarze überproportional häufig zum Tode verurteilt werden. Zwischen 1977 und 2003 wurden in den USA etwa eine halbe Million Menschen Opfer eines Mordes – zu fast gleichen Teilen handelte es sich um schwarze und weiße Amerikaner. Dennoch waren 80 Prozent der Hingerichteten wegen eines Mordes an Weißen verurteilt worden.

Das Wirken der Rassenordnung im Rechtssystem

Die Rechtswissenschaftlerin Michelle Alexander erregte 2010 mit dem Buch "The New Jim Crow" Aufsehen: Alexander sieht im war on drugs ein Bündel an Maßnahmen, mit denen über das Strafrecht vor allem junge afroamerikanische Männer unter rigide soziale Kontrolle durch die Polizei und ins Gefängnis gebracht werden. Sie sieht die Masseninhaftierung von Afroamerikanern in einer funktionalen Analogie zur Sklaverei, in denen eine rigide Kontrolle der Afroamerikaner über ihre rechtliche Definition als Eigentum ermöglicht wurde, wie auch in Analogie zur "alten" Jim-Crow-Ära, also der Zeit, in der die Segregation durch Gesetze festgelegt war. 2009 machten Afroamerikaner 39,4 Prozent der Gefangenenpopulation in den USA aus. Signifikant sind diese Zahlen auch deshalb, weil in fast allen Bundesstaaten der USA strafrechtlich verurteilte Gefängnisinsassen das Wahlrecht verlieren, was entsprechend wieder überproportional viele Afroamerikaner trifft.

Es überrascht nicht, dass eine wichtige neue soziale Bewegung, die gegen die Rassenordnung und das damit verbundene Unrecht mobilisiert, Black Lives Matter, aus der Reaktion auf ein Gerichtsurteil entsprungen ist, nämlich dem Freispruch für den Nachbarschaftswächter George Zimmerman, der im Februar 2012 den Jugendlichen Trayvon Martin erschossen hatte. Der Eindruck, dass schwarze Leben weniger zählen, wurde im August 2014 durch den Tod Michael Browns in Ferguson bestärkt – ein weiterer junger schwarzer Mann, der in diesem Fall von einem Polizisten erschossen wurde, der wiederum freigesprochen wurde. Die Verstrickungen der Rassenordnung mit dem Rechtssystem ist so komplex, dass systemisches Unrecht oft nicht direkt aus dem individuellen Handeln Einzelner herausgelesen werden kann. Zur Annäherung an die Komplexität der Verstrickungen eignet sich ein literarisches Werk aus den 1960er Jahren.

Literarisches Fallbeispiel: "Wer die Nachtigall stört"

1960 erschien in den USA Harper Lees Roman "Wer die Nachtigall stört". Die Handlung spielt im US-amerikanischen Süden der 1930er Jahre, in dem Atticus Finch, ein weißer Anwalt, sein Leben riskiert, um einen schwarzen Mann zu verteidigen, der eine weiße Frau vergewaltigt haben soll. Lange Zeit wurde der Roman als Darstellung eines vorbildhaften Rechtsanwaltes gelesen. Heute stören sich viele an der Idealisierung des weißen Mannes und der Passivität der schwarzen Charaktere. Man kann den Roman aber auch als Beispiel lesen für die Stabilität der Rassenordnung und für das Scheitern einer weißen Elite, die dem Mann ein gerechtes Verfahren gewähren will: Zwar kann diese Elite ein Verfahren erkämpfen und zunächst verhindern, dass der Beschuldigte, Tom Robinson, gelyncht wird. In diesem Verfahren aber spricht die weiße Jury allen Indizien zum Trotz den Angeklagten schuldig: Er kommt ins Gefängnis und wird dann bei einem Fluchtversuch erschossen.

In "Wer die Nachtigall stört" gibt es einen entscheidenden Dialog zwischen Atticus Finch und seiner Tochter: Der Rechtsanwalt legt nahe, dass es die weiße männliche Jury war, die ihre Ressentiments unzulässigerweise ins Spiel gebracht hatte. Eine solche Diagnose ist vorhersehbar nicht nur, weil sie so plausibel ist, sondern auch weil die Jurymitglieder als Laien das schwächste Element in dem ansonsten von ausgebildeten Juristen dominierten Gerichtsverfahren sind. Laien kann man am leichtesten die Schuld zuschieben. Richter und Staatsanwälte hingegen sind im Roman von der Kritik am Gerichtsverfahren noch ausgeschlossen.

Die Rolle von Richtern und Staatsanwälten im US-Strafrecht

Darin äußert sich eine auf schrittweise Verbesserung setzende Haltung, die die tiefe Verstrickung der scheinbar unabhängigen Experten in die Rassenordnung verkennt. Symbolisch zentral sind die Richter. An ihnen hängt die Fiktion einer unabhängigen Gerichtsbarkeit, in der Menschen mit Robe quasi entkörperlichte Wesen sind: Ihrer Sozialisation und allem, was sie zu Menschen macht, enthoben, sollen sie zu Repräsentanten des Gesetzes werden. Tatsächlich sind es in den Südstaaten häufig die Richter, die sich bei der Entscheidung über das Strafmaß – oft auch gegen die Empfehlung der Jury – für die Todesstrafe aussprechen. Während man bei Jurymitgliedern durchaus den Verdacht der Voreingenommenheit haben kann und sie entsprechend genau befragt und belehrt, ist dies bei Richtern anders: Obwohl auch Richter in eine Machtordnung hineinsozialisiert worden sind und sich in der Regel der entsprechenden Haltungen und Einstellungen kaum bewusst sind, gilt die Fiktion ihrer Unvoreingenommenheit oft als notwendig für das Funktionieren der Justiz.

Eine Schlüsselposition in US-amerikanischen Strafrechtsverfahren kommt den Staatsanwälten zu. Sie können etwa Menschen von der Liste der Juroren streichen – wenngleich der Oberste Gerichtshof 1986 entschied, dass es nicht verfassungsgemäß ist, eine identifizierbare Menschengruppe systematisch von der Jury auszuschließen. Staatsanwälte entscheiden über die Art der Anklage und führen vor Beginn des eigentlichen Verfahrens eine Reihe von Gesprächen hinter verschlossenen Türen, in denen sie dem Angeklagten verschiedene Optionen eröffnen können, aber nicht müssen, darunter etwa den Verzicht auf ein Verfahren vor einer Jury, ein Schuldgeständnis gegen verringertes Strafmaß. Da etwa 95 Prozent der Strafrechtsverfahren über Schuldgeständnisse abgeschlossen werden, haben die Staatsanwälte eine außergewöhnliche Macht – zumal sie bei ihren Verhandlungen niemandem Rechenschaft schuldig sind und ihre Entscheidungen kaum transparent machen müssen.

Die Rassenordnung reproduziert sich auch durch Wandel

Die Rassenordnung ist mit leichten, aber nicht unwichtigen Modifizierungen erhalten geblieben: Mit hohem Einkommen und Vermögen können sich heute auch Afroamerikaner Bildung und Gerechtigkeit leisten. Tatsächlich gibt es, stärker noch als vor 50 Jahren, eine schwarze Elite an Ärzten, Wissenschaftlern, Juristen, Geschäftsleuten, Sportlern, Politikern oder Schauspielern, die mit den Ghettos der Innenstädte, mit Gewalt, schlecht ausgestatteten Schulen oder gar Drogen und Beschaffungskriminalität kaum in Berührung kommen. Wenn sie sich nicht aus Überzeugung dennoch gegen Armut und Diskriminierung engagieren, bedeutet eine solche Differenzierung in der Erfahrung von Afroamerikanern auch eine Spaltung der Gruppe der Unterdrückten und dies wiederum einen relativen Machtverlust.

So verdeutlicht die Langlebigkeit dieser ungerechten Ordnung, dass Stabilität und Wandel, verstanden als gerichtete Veränderungen, nicht notwendig Gegensätze sind. Die Rassenordnung reproduziert sich auch durch Wandel. Die vielen Reformen, zum Beispiel die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung, sind sicher Verbesserungen, aber sie ließen die darunterliegende Machtordnung weitgehend unangetastet: Sie kleideten sie in ein neues, feineres Gewand – nicht so hässlich wie das des 19. Jahrhunderts mit seinen Lynchmorden oder das der 1950er Jahre, in denen Diskriminierung noch explizit in Gesetzen festgeschrieben war. Nachhaltig zu erschüttern wäre die Machtordnung nur durch tiefgreifende Veränderungen und Umverteilungen: nicht nur im Rechts- und Bildungswesen, sondern in den ökonomischen Bedingungen, die ihnen zugrunde liegen. Dies war der Grund, warum Martin Luther King 1968 erneut nach Washington marschieren wollte.

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