Kategorie: Hintergrund
Montage im Dokumentarfilm
Wie entsteht aus 80 Stunden Material ein 90-minütiger Film? Eine Dokumentarfilmerin erklärt, warum der Schnittprozess so bedeutsam ist und welche unterschiedlichen Entscheidungen Filmschaffende dabei treffen können.
Jeder Film entsteht eigentlich dreimal aufs Neue: Das erste Mal als Idee, manifestiert in einem Zum Inhalt: Treatment oder Zum Inhalt: Drehbuch, dann ein zweites Mal während der Dreharbeiten und schlussendlich im Schneideraum. Der Zum Inhalt: Schnittprozess ist beim Zum Inhalt: dokumentarischen Arbeiten besonders aufregend, weil sich hier erst zeigt, ob die Intentionen der Regie sich im Material spiegeln oder die Dreharbeiten sich anders als erwartet entwickelt haben. Denn im Gegensatz zum Spielfilm wird der Moment des Unerwarteten beim Verfassen des Treatments oft mitgedacht, ja sogar erhofft. Ein fertiges Drehbuch gibt es vorab in aller Regel nicht. Deshalb gibt es eine Vielzahl an Wegen, das "gewonnene" Material in eine dramaturgische Form zu kleiden. Es geht dabei nicht nur darum, filmische Inhalte in eine sinnstiftende Reihenfolge zu bringen, sondern das Material auch emotional zu erfassen und interpretieren.
Umfang und Auswahl des Schnittmaterials
Einigen Filmschaffenden reichen wenige Stunden Bildmaterial, um einen abendfüllenden Dokumentarfilm zu schneiden. Claude Lanzmann hingegen hatte für sein Hauptwerk Zum Filmarchiv: "Shoah" 350 Stunden Material zur Verfügung – so viel, dass im Nachhinein aus den ursprünglich nicht verwendeten Zum Inhalt: Szenen fünf weitere Filme entstanden sind. Im Falle von Zum Filmarchiv: "Aggregat" hat Regisseurin Marie Wilke an verschiedenen Orten in Deutschland, an denen Demokratie praktiziert oder kommunikativ vermittelt wird, über 80 Stunden Filmmaterial gedreht. Vor dem Schnitt hatte sie bereits eine Vorauswahl von 35 Stunden Material getroffen. Bis aus so vielen Stunden Film ein Werk von 90 oder 120 Minuten entsteht, verbringen Regie und Editor/-in oft Monate im Schneideraum, um den richtigen Rhythmus, die stimmige Reihenfolge und das passende Timing in der Montage zu finden. Filmschnitt ist deshalb Handwerk und Kunstform in einem – und hat sehr viel mit Intuition zu tun.
Der Montage-Stil in "Aggregat"
Bei "Aggregat" fallen zunächst die strengen Bildkompositionen und die fragmentarische Erzählweise auf, in der die verschiedenen Zum Inhalt: Schauplätze und Personen nicht narrativ miteinander verknüpft werden. Bei der Montage haben Wilke und ihr Co-Editor Jan Soldat sich dafür entschieden, den Entstehungsprozess des Materials offenzulegen und viele Szenen in ihrer tatsächlichen Länge zu zeigen. Sie haben keine handwerklichen "Tricks" angewendet, um – wie in den meisten Dokumentarfilmen üblich – die Handlungsabläufe in den einzelnen Zum Inhalt: Sequenzen in einen Fluss zu bringen. Jan Soldat bezeichnet diesen Schritt als "Entdramatisierung".
Treten also beispielsweise die Besucher/-innen im Infomobil des Bundestags an ein Rednerpult, um für Fotos zu posieren, ist der Prozess ihrer Selbstinszenierung in seiner ganzen Abfolge zu sehen – vom Auftritt bis zum Abgang aus dem Zum Inhalt: Bildkader. Auf der Zum Inhalt: Tonebene wurde nur Originalton verwendet und dieser auch nur selten ins Zum Inhalt: Off gelegt. Reaktionen auf Gesagtes, sogenannte Blickmontagen zwischen verschiedenen Personen im filmischen Raum, wurden nicht eingebaut. Die Schnitte sind durchgehend hart gesetzt; es kommen keine Zum Inhalt: Überblendungen vor. Im Gegenteil: Zwischen den einzelnen Kapiteln finden sich lange Schwarzblenden. Zudem verwendeten sie oft lange Einstellungen von den menschenleeren Drehorten. Die beiden Editoren hatten die Absicht, die einzelnen Sequenzen "atmen zu lassen", sagt Jan Soldat.
Die Rolle des Editors
Von den berühmten Zum Inhalt: Direct-Cinema-Regisseuren Albert und David Maysles ist überliefert, dass sie nach dem Dreh ihres Klassikers "Grey Gardens" (USA 1975) das Filmmaterial ungesichtet im Schneideraum abgaben. Die Editorinnen Ellen Hovde, Muffie Meyer und Ellen Froemke schufen dann gewissermaßen in Co-Regie den Film. Jan Soldat hingegen möchte seinen persönlichen Geschmack prinzipiell heraushalten, wenn er an einem Film für andere Filmemacher/-innen arbeitet. Seine Aufgabe als Editor sieht er in einem doppelten Kommunikationsprozess: zunächst die Auseinandersetzung mit dem Material, dann die Abstimmung mit der Regie. Bei "Aggregat" sei es besonders herausfordernd gewesen, die richtige Reihenfolge der Sequenzen zu finden, denn schon die Neuplatzierung einer einzelnen Szene bedeute oft, dass sich das gesamte dramaturgische Gerüst verschiebe. Die Rollenverteilung beschreibt er so: "Ich kann aufzeigen, was der Film alles sein kann. Die Entscheidung aber liegt bei der Regie." Deshalb zeigt sich beim Dokumentarfilm gerade in der Montage, wie stark der Gestaltungswille der Regie ist und in welcher (subjektiven) Form sie an ihr Thema herantritt.
Vielfalt des Dokumentarfilms zeigt sich in der Montage
Die Regisseurin Carmen Losmann gab zum Beispiel in den glatten Fassaden der Arbeitswelten die Rolle von Protagonisten. Auch ihr Hauptaugenmerk lag auf dem Sujet, nicht auf spezifischen menschlichen Schicksalen. Losmann wollte die Mechanismen des neoliberalen Arbeitsmarktes untersuchen. Dafür wählte sie mit ihrem Editor Henk Drees einen fast experimentellen Ansatz, bei dem Zum Inhalt: Montagesequenzen immer wieder die Ästhetik der Bürowelten in den Blick rücken. "Louisa" (D 2011) von Katharina Pethke stellt demgegenüber die taubstumme Schwester der Regisseurin als Protagonistin in den Mittelpunkt. Der Film folgt ihrer Auseinandersetzung mit der hörenden Welt und entkoppelt im Schnitt (Daniela Kinateder) oft Bild- und Tonebene, um Louisas persönliche Wahrnehmung für die Zuschauenden nachvollziehbar zu gestalten.
Ein eigenes Zum Inhalt: Subgenre ist der dokumentarische Kompilationsfilm. Hier arbeiten Filmschaffende ganz oder größtenteils mit Found Footage, eignen sich fremden Filmstoff aus anderen Spiel- und Dokumentarfilmen an, aber auch Amateurfilme oder Material aus Rundfunk-Archiven. Unter subjektiven Gesichtspunkten werden dabei Einzelbilder, Szenen und Sequenzen aus dem ursprünglichen Kontext gelöst und neu montiert. Dabei ist die Grenze zum Essayfilm oft fließend, etwa in Ruth Beckermanns Zum Filmarchiv: "Waldheims Walzer". Betrachtet man die Arbeiten von Agnès Varda, in denen sie Dokumentarisches mit Poesie und Fiktion verwebt, ist auch mit selbst gedrehtem Material ein essayistischer Ansatz möglich. So stellt sie in ihre persönlichen Assoziationen zum Begriff in Beziehung zu den Sammler/-innen von Übriggebliebenem: Gemüse und Obst auf Wochenmärkten, nicht eingebrachte Kartoffeln auf den Feldern.
Verhältnis zwischen Sujet und Montage
In der Beobachtung politischer Räume und kontroverser politischer Debatten setzt die Montage in "Aggregat" einen Kontrapunkt: Mit ihrer eher restriktiven Auswahl an Mitteln der Filmmontage arbeiten Wilke und Soldat einer emotionalen Aufladung ihres Materials entgegen und entschleunigen gleichzeitig gängige Sehgewohnheiten. Die Montage agiert transparent und zurückhaltend – die Bedeutung der Szenen bleibt so deutungsoffen für die Zuschauenden.