Kategorie: Interview
"Demokratisches Handeln, das man nicht täglich sieht"
Für die Dokumentarfilmerin Marie Wilke ist "Aggregat" eher eine Sammlung von Fragmenten als eine Erzählung. Ein Gespräch über Demokratie, Dreharbeiten auf einer Pegida-Demo und den abstrakten Titel ihres Films.
Marie Wilke ist Regisseurin, Autorin und Editorin. Sie studierte Regie und Montage an der Schule für Dokumentarfilm, Fernsehen und Neue Medien 'Zelig' in Bozen, Italien, und Experimentelle Mediengestaltung an der Universität der Künste (UdK) in Berlin. In Bozen und an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf war sie auch als Dozentin tätig, beim TV arbeitete sie als Cutterin an Nachrichtenbeiträgen und Reportagen. Seit 1999 realisiert Wilke eigene Zum Inhalt: Dokumentarfilme. Zum Filmarchiv: "Aggregat" ist nach Zum Filmarchiv: "Staatsdiener" (2015) ihr zweiter Kinofilm.
In "Aggregat" sieht man Gespräche zwischen Politikerinnen und Bürgern, Journalisten bei einer Reportage, eine Pegida-Demo und vieles mehr. Wie würden Sie selbst zusammenfassen, worum es in Ihrem Film geht?
Der rote Faden des Films ist für mich eine Auseinandersetzung mit Demokratie: Wie drückt sich Demokratie aus, in Handlungen und im Sprechen? An welchen Orten wird sie praktiziert oder verhandelt? Ausgangspunkt für diese Fragen war meine praktische Erfahrung als Cutterin beim Fernsehen. Mich hat interessiert, wie Medien Politik vermitteln, welche Entscheidungen dort getroffen, welche Dramaturgie und welche Bilder dafür verwendet werden. Ein Film darüber sollte aber auch zeigen, welche Rolle Politiker/-innen und Bürger/-innen in diesem Prozess einnehmen.
Waren die politischen Entwicklungen der letzten Jahre der Anlass, einen Film über Demokratie zu machen?
Zur Zeit der Recherche für "Aggregat" spielten Pegida und die AfD noch keine große Rolle. Als wir zu drehen anfingen, hatte sich die politische Lage verändert. Das hat den Film dann thematisch geprägt. Der Umgang von Politik und Medien mit dem Rechtspopulismus ist deshalb ein reichhaltiges Thema, weil sich dabei alle Beteiligten auch mit sich selbst beschäftigen. Genau diese Situationen, in denen Leute über ihre eigene Rolle nachdenken, wollte ich aufnehmen.
"Aggregat" ist ein abstrakter Begriff mit unterschiedlichen Bedeutungen. Wie kamen Sie auf diesen eher ungewöhnlichen Filmtitel?
Auf der Suche nach einem Titel habe ich lange über den Begriff "System" und den gemeinsamen Nenner der verschiedenen Teile des Films nachgedacht. Die Idee zu "Aggregat" kam mir, als ich bei den Zum Inhalt: Dreharbeiten im Reichstag auf das Kunstwerk von Joseph Beuys gestoßen bin. Das ist ein schlichter Holztisch mit schwarzem Kasten darauf und trägt den Titel "Tisch mit Aggregat". Mir gefällt die technische Bedeutung, also das Zusammenwirken von Maschinen oder Apparaten, aber gleichzeitig fand ich auch die philosophische Definition spannend: ein Ganzes, das aus verschiedenen Teilen besteht, die aber nicht miteinander verbunden sind. Bei einem System hingegen gibt es eine Verbindung zwischen den einzelnen Teilen.
In einem Teil des Films sieht man auch eine Pegida-Demonstration. Was war Ihr Ansatz beim Drehen an diesem Tag?
Dazu muss ich sagen, dass die allererste Zum Inhalt: Szene des Films am gleichen Tag gedreht wurde: Am 3. Oktober 2016 fanden in Dresden die Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit statt. Mein Fokus an diesem Tag war das Zelt des Deutschen Bundestags, wo den ganzen Tag ein Parlament simuliert wird und die Bürger/-innen mitmachen können. Die Demonstration wurde dann spontan veranstaltet, nur 100 Meter davon entfernt. Was ich an dieser Szene auffällig fand, war die entfesselte Wut der Menschen – im Kontrast zu den Abgeordneten, die auf Workshops einen möglichst rationalen Umgang mit Rechtspopulisten üben.
Diese Wut richtet sich auf der Demo vor allem gegen die Medien. Wie konnten Sie denn in dieser Situation aufnehmen?
Wir haben am Anfang mitten in der Menschenmenge gedreht, während andere Medienvertreter/-innen hinter einem Zaun standen und von dort sozusagen die "Masse" filmten. Dass wir mitten in der Demo waren, hat die Leute ein wenig irritiert, aber man hat uns größtenteils gelassen. Ich wollte in der Situation unbedingt, dass man die Interaktion zwischen Presse und Demonstrierenden sieht.
In mehreren Szenen gibt der Film Einblicke in die journalistische Arbeit.
Auch für Medienschaffende waren die vergangenen Jahre eine Zeit des Umbruchs. Ich hatte den Eindruck, dass eine gewisse Unsicherheit darüber, wie etwa über die "Neue Rechte" zu berichten sei, in den Redaktionen zur Folge hatte, über die eigene Arbeit neu nachzudenken. Man sieht das etwa in der taz-Szene. Ein bestimmtes Maß an Transparenz kann nur gut sein, also zu zeigen, dass etwas in der Berichterstattung schiefgeht oder Politiker/-innen an ihrer Arbeit zweifeln. Viele Menschen wissen vielleicht auch nicht genug darüber, wie Nachrichten und TV-Berichte entstehen.
Sie sagen selbst: ""Aggregat" ist keine Erzählung." Warum war es Ihnen wichtig, einen narrativen Zusammenhang zu vermeiden – selbst zwischen Szenen vom selben Tag und Ort?
Im Zum Inhalt: Schnitt hingen die Szenen zunächst noch zusammen. Dann entstand aber etwas, das ich dem Gegenstand nicht angemessen fand: Die Schnitte wirkten oftmals wie eine Art Kommentar auf die vorherige Szene. Wenn Demokratie der rote Faden des Films ist, wüsste ich auch gar nicht, was die große Erzählung darüber sein sollte. Mich hat eher interessiert, wie bestimmte Narrative über Demokratie gemacht werden. Ich fand es deshalb besser, die Szenen auch zeitlich nicht hierarchisch anzuordnen, sondern nebeneinander zu stellen: Der Film ist eher eine Art Sammlung als eine Erzählung.
Sie haben etwa 80 Stunden Material gedreht. Die Auswahl für 90 Minuten Film ist sicher nicht leicht gefallen. Können Sie drei Szenen nennen, die es am Ende nicht in den Film geschafft haben?
Wir haben noch mit einer Abgeordneten der Grünen und bei einem Arbeitskreis der grünen Bundestagsfraktion gedreht. Ich hatte anfangs die Idee, auch die anderen Parteien im Film zu begleiten. Dann gab es noch zwei Szenen mit jüngeren Menschen: eine große Gegen-Demonstration beim AfD-Parteitag in Köln und ein Demokratieplanspiel mit 16-jährigen Schüler/-innen im Bundestag. Bei dem Planspiel agieren die Jugendlichen als Parlamentarier verschiedener Parteien und müssen einen Gesetzesentwurf durchbringen. All drei Szenen waren spannend, haben aber letztlich keinen Platz in der Dramaturgie des Films gehabt.
Was können Jugendliche aus "Aggregat" mitnehmen?
Zum einen zeigt der Film Situationen des demokratischen Handelns, die man nicht täglich sieht, etwa einen Kreisparteitag in einer Kleinstadt. Das sind demokratische Plattformen, bei denen jeder mitmachen könnte. Auf den zahlreichen Veranstaltungen, die wir besucht haben, kann man sehen, dass es den Parteien gerade an Nachwuchs fehlt. Zum anderen ist die fragmentarische Form des Films für mich ein Angebot an die Zuschauer/-innen. Man bekommt keine Erklärungen geboten, sondern kann die Bedeutung und die Verbindung der Szenen im Kopf aktiv mitgestalten.