Belarus, im Jahr 2020. Im Umfeld der Präsidentschaftswahlen spitzen sich die Spannungen zwischen dem Lukaschenko-Regime und der demokratischen Opposition zu. In dieser prekären Lage begleitet der Zum Inhalt: Dokumentarfilm "Motherland" Menschen, die von der sogenannten Dedowschtschina (russisch: "Herrschaft der Großväter") betroffen sind. Bei dieser aus der Zarenzeit stammenden Praxis, die sich in postsowjetischen Staaten bis heute hält, handelt es sich um systematische Misshandlungen von jungen Wehrpflichtigen durch dienstältere Soldaten, die immer wieder zu Todesfällen – oft auch durch Suizid – führen. Die Mutter Svetlana ist verzweifelt, weil ihr Sohn Sascha während des Wehrdienstes wahrscheinlich zu Tode geprügelt wurde – ohne dass von offizieller Seite ernsthafte Ermittlungen erfolgten. Mit dem Zug reist sie zu anderen betroffenen Eltern, um gemeinsam beim Verteidigungsministerium Aufklärung und Bestrafung der Täter zu fordern. Der junge Nikita wird zum Wehrdienst eingezogen und verabschiedet sich bei einem Rave von seinem Freundeskreis. Kurz darauf erlebt auch er unwürdige Zustände im Militär und sieht sich, als die mutmaßlich gefälschten Wahlen heftige Massenproteste hervorrufen, mit dem möglichen Befehl konfrontiert, auf Demonstrierende zu schießen. Zwischendurch liest eine Zum Inhalt: Off-Stimme die Briefe eines Rekruten an seine Mutter vor, die den brutalen Alltag in der Kaserne einfühlsam beschreiben.

In ihrem Film zeichnen der belarussisch-ukrainische Regisseur Alexander Mihalkovich und seine belarussische Kollegin Hanna Badzianka (Glossar: Zum Inhalt: Regie) das Bild eines Landes, das von Stagnation und Resignation geprägt ist. Der Soundtrack (Glossar: Zum Inhalt: Filmmusik) verstärkt mit vielen dissonanten Klängen die düstere Atmosphäre. Die Aufnahmen der Kamera vermitteln eine beinahe winterliche Kälte, das Zum Inhalt: Licht ist meist fahl, die matten Farben (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung) der Häuser und Fabrikruinen (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set) wirken trist. Nur die Werbeplakate des Militärs und die großen Blumensträuße auf den Friedhöfen setzen bunte Akzente. Erst als tausende Belaruss/-innen zu Demonstrationen gegen den Langzeitmachthaber Alexander Lukaschenko auf die Straßen strömen, entsteht eine stärkere visuelle Dynamik: Statt einer sonst eher statischen Kamera (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen) dominieren in diesen Zum Inhalt: Sequenzen eine nervöse Handkamera und verwackelte Smartphone-Aufnahmen. Als das Regime die Proteste mit brutaler Gewalt niederknüppelt, kehrt wieder Grabesstille ein. Den jungen Demonstrant/-innen bleibt nur das Exil.

Nikitas Freunde engagieren sich erfolglos bei den Protesten gegen das Regime Lukaschenko, und Svetlana erreicht zwar Haftstrafen für die Peiniger ihres Sohnes, muss ihren Kampf für Gerechtigkeit aus Mangel an legalen Mitteln aber beenden. Im Fach Politik bietet es sich an, darüber zu reflektieren, welche Möglichkeiten den oppositionellen Kräften bleiben, auf eine Demokratisierung hinzuwirken. Erniedrigende Aufnahmerituale sind auch in westlichen männlich dominierten Sozialräumen wie Armeen oder studentischen Verbindungen noch üblich. Allerdings sind die Schikanen dort kurzfristiger angelegt als die kontinuierliche Unterdrückungspraxis der Dedowschtschina. Im Fach Ethik können die Schüler/-innen diskutieren, wann solche “Abhärtungspraktiken“ die Grenze zu Verletzungen der Menschenwürde überschreiten. Am Ende stellt sich heraus, dass der junge Briefeschreiber, der so unter den Drangsalierungen durch dienstältere Soldaten leidet, als Feldwebel selbst dem Rausch der Macht verfällt und Rekruten misshandelt. Dies liefert Ansatzpunkte für den Unterricht in den Fächern Psychologie und Sozialkunde: Welche Voraussetzungen müssen für einen Rollenwechsel vom Opfer zum Täter erfüllt sein? Und warum ist es so schwierig, den Teufelskreis der Vergeltung für tradierte Gewaltrituale zu durchbrechen?

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