Für seinen Film Zum Filmarchiv: "They Shall Not Grow Old" (GB/NZ 2018) hat der Regisseur Peter Jackson kein einziges Bild selbst gedreht. Sämtliche Filmaufnahmen stammen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Jackson hat dieses Material in den Archiven des Imperial War Museum vorgefunden – im Englischen spricht man auch von Zum Inhalt: Found Footage (deutsch: gefundenen Filmaufnahmen). Mittlerweile wird der Begriff Found-Footage-Film – leicht missverständlich – auch anderweitig benutzt, nämlich wenn Zum Inhalt: Horrorfilme wie "The Blair Witch Project" (Daniel Myrick, Eduardo Sánchez, USA 1999) in einem pseudo-dokumentarischen Stil inszeniert sind. Im Zum Inhalt: Dokumentarfilm sind damit jedoch historisch überlieferte Bildquellen gemeint (Amateurvideos, Wochenschauen, Zum Inhalt: Propaganda-Aufnahmen, Fotografien etc.), die aus privaten, Rundfunk- oder Museums-Archiven zusammengetragen werden.

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Theoretische Annäherung: Dokumentarische Formen und Stile

In Filmen mit historischen Sujets spielt Found Footage eine herausragende Rolle, schließlich ermöglicht es den Filmschaffenden, Ausschnitte einer vergangenen Realität zu zeigen – während sie selbst nur einen gegenwärtigen Blick auf Historisches dokumentieren können. Ganz gleich, in welcher Form sie fremdes Material in ihrem Film einsetzen: Stets stellen sie die ursprünglichen Bilder in einen neuen Bedeutungszusammenhang. Sogenannte Kompilationsfilme (auch: Found-Footage-Filme, Archivfilme) sind dokumentarische Werke, die ganz oder zumindest hauptsächlich aus Archivmaterial bestehen. Dieser Ansatz wurde bereits in der Zum Inhalt: Stummfilmzeit durch die sowjetische Regisseurin Esfir Schub begründet. In Zum Filmarchiv: "Der Fall der Dynastie Romanov" (UdSSR 1927) kompilierte Schub Aufnahmen aus der Zarenzeit und arbeitete die sozioökonomischen Verhältnisse heraus, die zum Umsturz des Systems geführt hatten. Produziert zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution, ist der Film auch im Kontext der sowjetischen Filmpolitik zu verstehen.

Ob es sich beim Kompilationsfilm um ein Zum Inhalt: Genre handelt, ist in der Filmwissenschaft umstritten. Der Genre-Begriff, im Bereich des Zum Inhalt: Spielfilms durch jahrzehntelange Forschung etabliert und nach narrativen sowie ideologischen Merkmalen definiert, ist in der Dokumentarfilm-Theorie wenig verbreitet. Dennoch lässt sich festhalten, dass der Kompilationsfilm — ähnlich einem Genre — stilistische Konventionen und dramaturgische Muster herausgebildet hat. Zugleich gibt es im Verlauf der Filmgeschichte eine Ausdifferenzierung der Form, vor allem in der Art und Weise, wie Archivbilder eingesetzt werden. Mit der Zum Inhalt: Montage und dem Voiceover-Kommentar als wesentlichen Stilmitteln haben sich informative, agitatorische und essayistische Formen entwickelt. Um diese Vielfalt zu beschreiben, ist das Konzept der Stilarten oder Modi des Dokumentarfilms (documentary modes) des US-amerikanischen Filmwissenschaftlers Bill Nichols hilfreich. In seinem Standardwerk Introduction to Documentary (2010) unterscheidet Nichols sechs grundlegende Kategorien: den erklärenden (expository), poetischen (poetic), beobachtenden (observational), partizipativen (participatory), reflexiven (reflexive) und performativen (performative) Stil.

Voice-of-God: Der erklärende Kompilationsfilm

Bei den meisten Dokumentarfilmen handelt es sich um Mischformen, und im Fall des Kompilationsfilms fallen die genannten Stile unterschiedlich ins Gewicht. Am häufigsten verbreitet ist bis heute der informativ-erklärende Stil (expository), der durch seine Verbreitung im Fernsehen häufig mit dem Label "Dokumentation" versehen wird. Diese Filme kompilieren heterogenes historisches Bildmaterial und stellen es mithilfe eines Zum Inhalt: Voiceover in einen sinnhaften Zusammenhang. Weil oft männliche Sprecher mit tiefer Stimme als "objektive" Erzählinstanz eingesetzt werden, spricht Nichols auch spöttisch vom "Voice-of-God-Erzähler". In Deutschland produziert Guido Knopp für das ZDF seit Jahrzehnten Filme dieser Art und nutzt darin oft illustrativ Material aus Propagandafilmen, vor allem in Beiträgen über den Nationalsozialismus ("Hitler — Eine Bilanz" , DE 1995).

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In verwandter, aber differenzierterer Form hat der Historiker Ken Burns diverse Mehrteiler über die US-Geschichte vorgelegt ("Der Amerikanische Bürgerkrieg/The Civil War" , USA 1990; "The War" , USA 2006). Burns nutzt auf der Bildebene meist abgefilmte Fotografien — heute bekannt als Ken-Burns-Effekt — und lässt Schauspieler/-innen vielstimmige Quellen aus der jeweiligen Zeit vorlesen. Auch in Peter Jacksons "They Shall Not Grow Old" berichtet eine Vielzahl an Stimmen über historische Erfahrungen, diesmal im Ersten Weltkrieg. Jackson montiert die Tonspur jedoch so, als würden die insgesamt 114 Soldaten quasi mit einer Stimme sprechen, und suggeriert Zusammenhänge mit den illustrativen, an heutige Sehgewohnheiten angepassten Bildern. In dieser Form rückt ebenfalls eine geschichtsdidaktische Absicht in den Vordergrund: den längst vergangenen Krieg nicht nur informativ, sondern auch emotional zu vermitteln.

Beobachtende und poetische Collagen

Trotz ähnlicher Verfahren zeigt sich in der Wirkung ein interessanter Kontrast zwischen Jacksons Film und Zum Filmarchiv: "The Event" (NL/BE 2015) von Sergei Loznitsa. Der ukrainische Regisseur montiert Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die auf den Straßen von Leningrad während des dreitägigen Putschversuchs gegen Michail Gorbatschow im August 1991 gefilmt wurden. Er enthält sich jeglicher Erklärung — kein Voiceover und keine Zum Inhalt: Inserts — und nutzt wie Jackson ein Zum Inhalt: Sound-Design, das sich wie Originalton anhört, aber in der Zum Inhalt: Postproduktion mit Nachsynchronisierung erstellt wurde. In dieser Form wirkt "The Event" wie ein Zum Inhalt: Direct-Cinema-Film (der er nicht ist), mitten drin in den chaotischen Straßenprotesten, deren Interpretation den Zuschauenden überlassen wird.

Der Ungar Péter Forgács ist derweil für einen poetischen Stil in der Kompilation von Amateurfilmen bekannt geworden. In "The Danube Exodus" (HU 1998) zeigt er die Flucht mitteleuropäischer Juden in Richtung Palästina kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, aufgezeichnet vom Kapitän eines Dampfschiffes. In seinen Filmen ermöglicht Forgács einen anderen Blick auf Historisches, einen Blick auf alltägliche, manchmal überraschend glückliche Momente — etwa die Hochzeit eines jungen Paars an Deck — im Kontext der globalen Katastrophe.

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Der Kompilationsfilm als Essay

In den reflexiven und performativen Stilarten des Dokumentarfilms dient das Found Footage nicht mehr bloß als authentisches Dokument der Vergangenheit, sondern wird — meist in einem essayistischen Kommentar — auf seinen Wahrheitsgehalt befragt oder bildtheoretisch analysiert. Einerseits kann dabei der subjektive Blick der Regisseurin auf den Protagonisten in den Fokus rücken, wie in Zum Filmarchiv: "Waldheims Walzer" (AT 2018), wenn Ruth Beckermann über Aufnahmen von Kurt Waldheim aus ihrem eigenen Archiv nachdenkt ("Ich erinnere mich an seine Hände …"). Andererseits kann wie bei Harun Farocki, etwa in "Videogramme einer Revolution" (DE 1992) über den im Staatsfernsehen dokumentierten Sturz des rumänischen Diktators Nicolae Ceaușescu, die Bildproduktion selbst zum Gegenstand werden: Wer filmt, aus welchem Standpunkt — und was genau ist eigentlich zu sehen? Fragen, die beim kritischen Blick auf historisches Footage in Dokumentarfilmen stets im Zentrum stehen sollten.

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