Im Frühjahr 1986 steht in Österreich die Bundespräsidentschaftswahl an. Vor dem ersten Wahlgang gilt der unabhängige, aber von der konservativen ÖVP (Österreichische Volkspartei) unterstützte Kurt Waldheim als Favorit und setzt sich betont staatsmännisch in Szene: "Ein Österreicher, dem die Welt vertraut". Er war zuvor von 1972 bis 1981 Generalsekretär der Vereinten Nationen. Als jedoch bekannt wird, dass Waldheim im Zweiten Weltkrieg Mitglied mehrerer NS-Organisationen war, gibt es national und international Proteste. Die NGO World Jewish Congress mit Sitz in New York recherchiert seine Kriegseinsätze und bringt ihn in Erklärungsnot: Er habe keine Deportationen miterlebt, beharrt Waldheim, sondern bloß "meine Pflicht erfüllt wie Hunderttausende Österreicher auch". Große Teile der Bevölkerung solidarisieren sich mit ihm. Die Wahl gewinnt er auch deswegen, weil viele Wähler/-innen die Erinnerung an eine unbelastete Nationalgeschichte erhalten wollen.

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"Waldheims Walzer" ist ein Zum Inhalt: dokumentarischer Kompilationsfilm. Ruth Beckermann verwendet historisches Bildmaterial aus TV-Archiven sowie Aufnahmen, die sie selbst als junge Frau mit einer Videokamera drehte: auf den Straßen Wiens, bei Wahlkampfauftritten und Protestaktionen. Die Regisseurin war Teil der Bewegung, die Waldheim zum Rücktritt aufforderte und das offizielle Narrativ von Österreich als "erstem Opfer der Nazis" empfindlich störte. Die Kritik an ihrem Kandidaten stellte die ÖVP deshalb öffentlichkeitswirksam als Angriff auf die Ehre der Nation dar – verübt durch eine "kleine, aber einflussreiche Gruppe aus dem Ausland" (Waldheim). Das mobilisierte auch antisemitische Ressentiments, die sich, wie der Film zeigt, offen auf der Straße entluden. Beckermann selbst führt mit einem Zum Inhalt: Voice-Over-Kommentar durch eine Art Chronik der Waldheim-Affäre in Bild-Ereignissen. Sie reflektiert dabei über die Politik der Bilder ebenso wie über ihre eigene Rolle als Aktivistin und Dokumentaristin.

In seinem thematischen Kern regt der Film in den Fächern Deutsch, Politik oder Geschichte eine Diskussion über Geschichtspolitik und Erinnerungskultur an. Das Verhältnis der Österreicher/-innen zur Historie ihres Landes im Zweiten Weltkrieg sollte dabei im Kontext der damals auch in Deutschland umkämpften Aufarbeitung des Nationalsozialismus gesehen werden. So ist im Film zu sehen, wie Helmut Kohl und Ronald Reagan 1985 Grabstätten von Angehörigen der Waffen-SS besuchen; nur drei Tage später prägte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker den heute verbreiteten Ausdruck "Befreiung vom Nationalsozialismus" – ein klares Eingeständnis der historischen Schuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg. Anhand von Beckermanns Umgang mit dem vorgefundenen Material können Schüler/-innen lernen, Bildquellen und die rhetorischen Manöver der beteiligten Personen kritisch zu untersuchen. Was unterscheidet den Film formal von sogenannten Geschichtsdokumentationen im Fernsehen? Die Diskursverschiebung in der kontroversen Waldheim-Debatte bietet zudem einen Bezug zur Gegenwart: Wie heute auch wurde 1986 gezielt mit Falschmeldungen ("Fake News") gearbeitet und extremistische Positionen wurden quasi über Nacht wieder salonfähig.

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