Ein kurzer Gang in die Unterwelt reicht Regisseur Dominik Graf, um in seiner Romanverfilmung "Fabian oder Der Gang vor die Hunde" den Zeitsprung von der Gegenwart des Jahres 2021 in die Vergangenheit des Jahres 1931 zu schaffen: Die Kamera steigt in der Berliner U-Bahn-Station Heidelberger Platz nach unten, mischt sich unter die Fahrgäste auf dem Bahnsteig, nimmt aber keine Bahn, sondern geht am anderen Ende der Station wieder nach oben. Hier hängen nun schon Plakate von damals, auch wenn eine Frau im Bild ganz offensichtlich noch von heute ist. 70 Jahre überbrückt diese subjektive Kamerafahrt (Glossar: Zum Inhalt: Subjektive Kamera), die zugleich ein erstes Zeichen setzt, was Film kann. Denn darum geht es ganz wesentlich: Dominik Graf hat Erich Kästners Der Gang vor die Hunde, die erst 2013 veröffentlichte Ursprungsfassung seines berühmten Romans Fabian (1931), wohl nicht zuletzt deswegen in eine filmische Erzählung übertragen, weil er zeigen möchte, was das Kino mit einem Text alles machen kann. So lässt sich "Fabian oder der Gang vor die Hunde" als eine durchaus paradoxe Zum Inhalt: Literaturverfilmung sehen: Sie zeichnet sich zugleich durch Texttreue wie durch große Autonomie aus.

Fabian oder Der Gang vor die Hunde, Trailer (© DCM)

Berlin als "Sodom und Gomorrha"

Der Held, Dr. phil. Jakob Fabian, der immer nur bei seinem Nachnamen genannt wird, ähnelt jenen Männern ohne Eigenschaften, die für die deutschsprachige Literatur des frühen 20. Jahrhunderts typisch sind. Von seinen Wegen durch die Stadt erzählt der Film. Fabian, der sich als Werbetexter bei einem Zigarettenfabrikanten verdingt, ist mit Berlin bestens vertraut, er kennt alle möglichen Milieus und auch das Nachtleben sehr gut. Aber er lässt sich selten so richtig auf etwas ein. Nur zwei Menschen kommen ihm wirklich nahe: sein Freund Stephan Labude, auch er ist Literaturwissenschaftler, aber im Unterschied zu Fabian wohlhabend, und Cornelia Battenberg, eine junge Frau, in die er sich verliebt. Das Berlin des Jahres 1931 ist ein "Sodom und Gomorrha", so bezeichnet Fabian einmal gegenüber Cornelia die Stadt, in dem NSDAP-Plakate von einem "Erwachen" schreien, in dem, wie die Zeitungen reißerisch berichten, ein halbwüchsiges Mädchen zehn Jungen, mit denen es in eine Räuberbande bildet, mit einer Geschlechtskrankheit ansteckt. Aus Sicht des Helden stehen in diesem Berlin alle Zeichen auf Untergang. Doch was kommt nach dem Untergang? "Die Dummheit."

Ob Graf diese spitze Bemerkung von Kästner auch auf unsere Gegenwart gemünzt hat, zeigt der Film nicht explizit. Mit "Fabian oder Der Gang vor die Hunde" wendet er sich zumindest aber gegen die "Dummheit" eines deutschen Gegenwartskinos, dem er mehrfach mangelnden Mut und mangelnde künstlerische Intelligenz vorgeworfen hat. Gerade mit historischen Stoffen geht das deutsche Kino und Fernsehen häufig bieder um: Hochwertige Zum Inhalt: Ausstattung ist wichtiger als mutige Interpretation. Graf demonstriert hingegen für die Erzählung von "Fabian oder der Gang vor die Hunde" , was das Kino zu bieten hat: drei Stunden voll rasanter Schnitte (Glossar: Zum Inhalt: Montage), flüchtiger Beobachtungen, aber auch hoch konzentrierter, intimer Zum Inhalt: Szenen. Drei Stunden mit Varieté und Show, mit Dekadenz und Drama.

Hommage an die Weimarer Moderne

Den Text des Romans verteilt Graf auf drei Erzählstimmen (Glossar: Zum Inhalt: Voiceeover), einen Mann, eine Frau und zudem Jakob Fabian, gespielt von Tom Schilling. Diese Polyphonie ist Prinzip: In den Bildern wie in den Tönen hat Grafs "Fabian oder Der Gang vor die Hunde" viele Aspekte einer Collage. Der Regisseur bindet Filmmaterial der 1920er- und 1930er-Jahre ein, stellt mehrere Szenen in einem Filmbild nebeneinander, und kümmert sich relativ wenig um einen erzählerischen Fluss. Er sammelt Impressionen, und begreift seinen Helden als Medium. Er greift mit diesem Hang zur Collage auf ein bewährtes Stilmittel der Weimarer Moderne zurück, die ein Labor für die Erforschung der Gegenwart war. Viele Theorien beschäftigten sich damals mit den Schocks eines neuen Medienzeitalters, in dem Werbung und Kunst, Umweltlärm und bedeutsame Rede nicht mehr so leicht auseinanderzuhalten waren. Dieser Schock-Moderne setzt Graf in "Fabian oder der Gang vor die Hunde" mit einer höchst beweglichen Kamera (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen) und mit einer bis in subtilste Details gestalteten Tonspur (Glossar: Zum Inhalt: Tongestaltung/Sound Design) ein Denkmal. Man kann den formalen Ehrgeiz des Films durchaus auch als eine kritische Reaktion auf die Fernsehserie Zum Filmarchiv: "Babylon Berlin" (Tom Tykwer, Henk Handloegten, Achim von Borries, DE 2017) sehen, die sich dieser Zeit mit den Mitteln des klassischen Ausstattungskinos auf eine deutlich konventionellere Weise nähert. Zugleich macht Graf deutlich, was ein Historienfilm heute sein kann: Er verzichtet weitgehend auf künstliche digitale Rekonstruktion, sondern hat an Orten (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set) vor allem in Berlin und Görlitz gedreht, die noch immer ihre Herkunft aus dem frühen 20. Jahrhundert erkennen lassen.

Fabian oder Der Gang vor die Hunde, Szene (© DCM)

Das Ende von Moral und Aufklärung

Fabian ist der Moralist in einem amoralischen Universum. Es sind die Umstände, die Arbeitslosigkeit, die auch ihn schließlich ereilt, die Armut, die es der Moral so schwer machen. Cornelia erzählt, sie wäre wie Fabian selbst aus einer kleineren Stadt in das große Berlin gekommen. Sie sind sogar in derselben Pension gelandet, und erleben ihre Momente des Glücks sehr intensiv, aber auch mit ironischer Distanz. Als es aber drauf ankommt, zieht sie ihre Schauspielkarriere vor, übrigens ganz nach dem Ratschlag, den Fabian ihr selbst zu Beginn gegeben hat. Cornelia ist eine sachliche junge Frau, ganz im Einklang mit einem Typus, den zum Beispiel die Schriftstellerin Irmgard Keun mit ihrem Roman Das kunstseidene Mädchen (1932) verewigt hat. Fabians Freund Labude hingegen ist die tragische Figur: ein Lessingkenner, dem eine Intrige an der Universität zum Verhängnis wird. Mit Labudes Tod scheitert gewissermaßen auch die Aufklärung in Deutschland, sie fällt dem Nationalsozialismus zum Opfer, und Fabian selbst bleibt nur die Rückkehr nach Dresden und das sinnlose Schicksal, das ihm Erich Kästner mit seinem abrupten Romanende beschieden hat.

Dominik Graf hat eine mustergültige Literaturverfilmung geschaffen: Das Damals des Texts und die Gegenwart seines Blicks sind kunstvoll verschränkt. Er findet das Berlin der späten Weimarer Zeit im Berlin von heute. Er nutzt den Blick auf 1931, um zu der Gegenwart des deutschen Kinos auf Distanz zu gehen. Er begreift das Jahr als einen Endpunkt, um 2021 damit etwas Neues beginnen zu können: ein deutsches Kino, das sich auf die Herausforderungen der Moderne einlässt.

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