Mit dem Ersten Weltkrieg begann am 28. Juli 1914 das erste Kapitel industrieller Kriegsführung. Am Ende des mit völlig neuartigen schnellfeuernden, explosiven und chemischen Waffen geführten Konflikts standen geschätzte 17 Millionen Todesopfer, davon 10 Millionen Soldaten. Es war zugleich der erste Krieg, der in Form von Wochenschau- und Propagandaaufnahmen (Glossar: Zum Inhalt: Propagandafilm) vom noch jungen Medium Film begleitet und dokumentiert wurde. Dennoch verschwindet das historische Ereignis zusehends hinter den "Nebeln der Geschichte". Dazu trägt auch die von Jahr zu Jahr schwindende Qualität des oft mehrfach kopierten Filmmaterials bei und der graue Eindruck der Schwarz-Weiß-Bilder. Gerade für ein jüngeres Publikum wirken Filme ohne Farbe (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung), noch dazu ohne Ton (Glossar: Zum Inhalt: Tongestaltung/Sound-Design), als Bewegtbild-Quellen des Krieges wenig anschaulich.

Mit der technischen Neubearbeitung von 600 Stunden Filmmaterial des Imperial War Museum in London soll der Zum Inhalt: Dokumentarfilm "They Shall Not Grow Old" diesen Eindruck grundlegend verändern – auf der Tonspur umfangreich kommentiert von Zeitzeugen-Interviews aus dem BBC-Archiv. Der neuseeländische Regisseur Peter Jackson, dessen Großvater in der britischen Armee diente, verlässt sich damit auf eine konsequent britische Perspektive. Seine Botschaft wirkt gleichwohl zwingend: Der Erste Weltkrieg war nicht schwarz-weiß, und schon gar nicht stumm.

Jackson gibt dem Publikum allerdings Zeit, sich an das Vorhaben zu gewöhnen. Im historischen Zum Inhalt: Bildformat 1.33:1 (4:3) erscheinen zunächst Bilder von der britischen Mobilmachung, der Uniformierung der Freiwilligen und ersten Marschübungen. Der Modus erinnert noch an das gewohnte Bild der Wochenschauen. Die Zum Inhalt: Überblendung mit Plakataufrufen ("Join the Army!") soll zugleich deutlich machen: Es handelt sich um Propagandamaterial, gefertigt in der Absicht auch der zivilen Mobilmachung gegen einen äußeren Feind. Erst mit dem Eintreffen der Truppen an der französischen Westfront weitet sich das Bild auf Breitwandformat (16:9) – und die nun kolorierten und auch vertonten Bilder entfalten ihre volle Wirkung. Erstmals sieht man die Ereignisse von vor über 100 Jahren in Farbe.

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Ein neuer Blick auf den Ersten Weltkrieg – dank digitaler Technik

Das Resultat ist beeindruckend. Das eben noch so ferne Geschehen in den Schützengräben wird auf unheimliche Weise lebendig. Die Farbgebung und die atmosphärische Anreicherung mit Geräuschen bringen, beim Anblick der Soldaten und ihrer Gesichter, zweifellos eine emotionalere Rezeption hervor. Am Anfang ihrer Kriegserfahrung steht das zermürbende Warten im Hinterland. Die Soldaten werden trainiert und verpflegt, plagen sich mit erbärmlichen hygienischen Bedingungen. An der Front angekommen, fordern erste Kämpfe ihre Opfer, die Bilder der Leichen sind mit einer Tonspur aus summenden Fliegen und fiependen Ratten unterlegt. Um diese durchaus nicht nur propagandistischen Bilder – einige stammen aus dem filmhistorisch bedeutsamen Werk "The Battle of the Somme" (GB 1916) – der heutigen Bildgeschwindigkeit anzupassen, von ursprünglich meist 16 Bildern auf 24 Bilder pro Sekunde, wurden durch Berechnungen am Computer digitale Zwischenbilder (Glossar: Zum Inhalt: CGI) erstellt. Zusätzlich konvertierte Jackson die Aufnahmen mit moderner Software zu einem 3D-Effekt (Glossar: Zum Inhalt: 3D-Technik/Stereoskopie) mit räumlicher Tiefe. Für die Kolorierung von Uniformen, Waffen und Gerätschaften waren umfangreiche Recherchen an den Originalen nötig, jedes sichtbare Regimentsabzeichen gab wichtige Hinweise. Lippenleser dechiffrierten das gesprochene Wort.

Die gleiche Sorgfalt widmet Jackson, bekannt für die digitalen Wunderwelten seiner "Herr der Ringe" -Trilogie ("The Lord of the Rings" , NZ/USA 2001 ff), der Dramaturgie seiner Bilder und Töne – die gesamte Dokumentation ist letztlich montiert wie ein Zum Inhalt: Spielfilm. Dies wird besonders deutlich an den Schlachtszenen, die sich bald, unterlegt mit Detonationsgeräuschen und dem Stöhnen der Sterbenden, zu einem dramatischen Crescendo steigern. "Die Leiter hoch, raus aus dem Graben, drauf auf die Deutschen!" Mit erschütterndem Vorher-Nachher-Effekt sieht man in der Folge Bilder in die Kamera lächelnder Soldaten im Wechsel mit am Boden liegenden Leichen – das grausige "Produkt" des Krieges. Die kunstvolle Zum Inhalt: Montage überdeckt allerdings, dass es sich bei den angeblichen Kampfszenen meist um Standbilder, Zeichnungen oder womöglich nachträglich gedrehtes Material handelt. Letzteres war, wie aus der Propagandaforschung bekannt ist, gängige Praxis.

They Shall Not Grow Old, Szene (© 2018 Imperial War Museum/Warner Bros. Pictures)

Über 100 Zeitzeugen schildern ihre Kriegseindrücke

Jackson bemüht keine Historiker/-innen, um solche Zusammenhänge zu klären. Dennoch werden die Zuschauenden mit Informationen reichlich versorgt. Nicht weniger als 114 Zeitzeugen, damals Angehörige der britischen Streitkräfte, geben ihren lebhaften Kommentar. Eine historische Einordnung des Geschehens ("Es ging irgendwie um Serbien, oder?") ist damit nicht möglich, auch kann die rasende Abfolge der erst im Zum Inhalt: Abspann namentlich genannten Stimmen – in der deutschen Version noch dazu untertitelt – bisweilen überfordern. Nicht zuletzt könnte ein unerfahrenes Publikum versucht sein, die vor Jahrzehnten aufgenommenen Interviewten mit den abgebildeten Personen zu identifizieren. Die allzu penible Parallelführung von Bild und Ton suggeriert diesen Zusammenhang: "Ich war 17", heißt es etwa auf der Tonspur, als das Porträt eines jungen Freiwilligen zu sehen ist. Doch in dieser unvermittelten Kommentierung, in der der Einzelne fürs Ganze steht, liegt auch eine tiefere Wahrheit des Films – über den Krieg, der die Menschen zur Masse macht. Und die alten Soldaten teilen einprägsame Erinnerungen: an das miserable Essen, die naive Euphorie bei Kriegseintritt, die lähmende Angst im Kampf. Die notgedrungen einseitige Perspektive auf den "Großen Krieg", der in Großbritannien mehr Opfer forderte als der Zweite Weltkrieg und als "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts gilt, ist von nationalistischen Tönen erstaunlich frei. Als sie mit deutschen Gefangenen ihre Erfahrungen austauschten, bemerkten die Briten: "Es waren Jungs wie wir" – am Ende ihrer Kräfte, desillusioniert, und froh, dass es vorbei war.

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