Kategorie: Filmbesprechung
"Beautiful Boy"
Nic ist 18 und abhängig von Crystal Meth. Sein Vater David will ihn beim Entzug unterstützen, fühlt sich nach mehreren Rückfällen aber ohnmächtig. Der Film von Felix Van Groeningen adaptiert zwei erfolgreiche Sachbücher über den Kampf gegen die Drogensucht.
Unterrichtsfächer
Thema
Viele "Drogenfilme" erzählen ihre Geschichten aus der Perspektive der unmittelbar Betroffenen, wie alles oft harmlos beginnt und doch in die Abhängigkeit führt, ob sie den Entzug schaffen oder rückfällig werden. Welche Konsequenzen die Sucht eines Einzelnen für die gesamte Familie hat, wurde bisher meist nur am Rande gestreift. Lange Zeit ging es in diesen Filmen um die "klassischen" Drogen – Alkohol, Heroin oder Kokain –, erst in der letzten Dekade haben Filme und Serien wie Zum Filmarchiv: "Winter's Bone" (Debra Granik, USA 2010) oder "Breaking Bad" (Vince Gilligan, USA 2008-2013) auch die verheerenden Folgen der synthetischen Modedroge Crystal Meth in den Blick genommen.
Drogensucht eines Jungen aus bürgerlichen Verhältnissen
Nic Sheff (Timothée Chalamet), der Sohn des renommierten Journalisten David Sheff (Steve Carell), fängt mit etwa 18 Jahren an, auch diese Droge zu nehmen, offenbar aus einer tiefsitzenden, für sein Umfeld irrationalen Angst vor einer inneren Leere, die ihn seit seiner Kindheit verfolgt und ihm erst als junger Mensch bewusst wird. Sich ihr zu stellen oder sie gar mit Hilfe seiner Familie zu überwinden, ist ihm nicht möglich. Auch, was diese existenzielle Angst in der Kindheit verursacht haben könnte, bleibt unklar. Schließlich greift Nic zu verschiedenen Drogen, zunächst aus Neugier, bald jedoch gezielt als Flucht vor seinen Ängsten. Ohnmächtig und verzweifelt erleben Vater David und dessen neue Familie sowie Nics Mutter Vicky, wie der Junge immer weiter in die Abhängigkeit rutscht. Seine Rückfälle nach wiederholtem Drogenentzug werden in der Klinik als "Teil der Therapie" dargestellt, bis scheinbar kein Zweifel mehr daran besteht, dass ihm nicht mehr zu helfen ist. Der Kampf von Vater und Sohn gegen Nics Drogensucht erstreckt sich über zehn qualvolle Jahre.
Im Jahr 2005 hat der reale Autor David Sheff im New York Times Magazine einen Artikel über seinen drogenabhängigen Sohn veröffentlicht, aus dem später das Buch Beautiful Boy hervorging. Zeitgleich erschien unter dem Titel Tweak ein Erfahrungsbericht seines Sohnes Nic. Der belgische Regisseur Felix van Groeningen war von dieser außergewöhnlichen Vater-Sohn-Beziehung und von ihren Büchern derart fasziniert, dass er sich entschloss, darüber seinen ersten Film in den USA zu drehen.
Ambitionierte Erzählung mit verschachtelten Rückblenden
Eine Schwierigkeit bei der Zum Inhalt: Adaption bestand darin, die unterschiedlichen Erinnerungen von Vater und Sohn so miteinander zu verbinden, dass sie zu einem stimmigen Ganzen verschmelzen und nicht das Gefühl entsteht, der Film würde ständig zwischen zwei Perspektiven hin- und herspringen. Das Zum Inhalt: Drehbuch von Felix van Groeningen und Ko-Autor Luke Davies, der selbst eine Heroinsucht hinter sich hat, löst dieses Problem, indem Teile der Geschichte nur aus der Sicht des Vaters, andere nur aus der Sicht des Sohnes erzählt werden. Eine emotionale Brücke schlagen Originalmusikstücke (Glossar: Zum Inhalt: Filmmusik) jener Zeit (der 1990er-Jahre), die für Vater und Sohn gleichermaßen von Bedeutung waren. Die Erzähltechnik von "Beautiful Boy" wird so zur vielschichtig strukturierten Zum Inhalt: Montage von Erinnerungsstücken, wobei der Vater seine Erlebnisse in nicht immer chronologischen Zum Inhalt: Rückblenden erzählt, der Sohn hingegen in der jeweiligen Gegenwart der Erzählung verbleibt. Die eindrucksvolle Lichtführung (Glossar: Zum Inhalt: Licht und Lichtgestaltung) erzeugt dabei durchweg eine Atmosphäre der Ungewissheit. Häufig werden die Figuren im Gegenlicht der Wohnungsfenster gefilmt, was eine Unterbelichtung ihrer Gesichter zur Folge hat und visuell mit ihrer lückenhaften Erinnerung korrespondiert.
Die "doppelte" Perspektive …
Das handwerklich versierte Montageprinzip, der offensichtlich große Respekt des Regisseurs vor der bekannten Familie sowie die stark ästhetisierte Darstellung des Drogenkonsums und der Entzugsversuche erklären vielleicht, dass der Film sich trotz zahlreicher Sachinformationen geschickt über einige wichtige Fragestellungen hinwegmogelt. Der Fokus auf die Familie ist daher Stärke und Schwäche zugleich. Die im Film umgesetzte "doppelte" Perspektive deutet oft nur zwischen den Zeilen an, dass trotz bester Absichten im Vater-Sohn-Verhältnis nicht alles perfekt gelaufen ist und die Erinnerung des Vaters etwas geschönt wirkt. Nachdem die Recherchen von David Sheff im Film ergeben, dass bei extremem Crystal-Meth-Konsum die Heilungschancen minimal sind, wäre eine Antwort auf die Frage, wieso es der Sohn dann doch schafft, gerade als der Vater keinen Ausweg mehr sieht und jede weitere Unterstützung verweigert, vielleicht sinnvoller gewesen als der bloße Verweis auf ein Wunder.
… und die "halbe" Wahrheit
Mit seinem Fokus auf dem Schicksal eines Jungen aus privilegierten Verhältnissen suggeriert "Beautiful Boy" , Drogenmissbrauch sei eine Krankheit, die jede Familie treffen könne. Das ist per se nicht falsch, aber eben nur die "halbe" Wahrheit. Die gesellschaftspolitischen Hintergründe der immensen Drogenproblematik in den USA – etwa Armut und Segregation in den Großstädten, ein weit verbreiteter Medikamentenmissbrauch, die Folgen von Kriegseinsätzen bei jungen Veteranen – kommen in dieser Erzählung nicht vor. Einer Studie der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) zufolge gab es 2017 in den USA 70.237 Menschen, die an einer Überdosis Drogen gestorben sind, davon mehr als 10.000 nach dem Missbrauch von Psychostimulanzien wie Crystal Meth. Die Zahl der Drogentoten ist in den USA auf dem Höchststand und liegt, prozentual umgerechnet auf die Bevölkerungszahlen, mehr als 14 Mal so hoch wie in Deutschland.
"Beautiful Boy" bleibt, trotz solcher Kritikpunkte, ein wichtiger, gerade auch in künstlerischer Hinsicht sehenswerter Film, dessen Reibungspunkte ihn für eine differenzierte Auseinandersetzung im Schulunterricht vielleicht sogar besonders geeignet machen. Nur "unter den Tisch kehren" sollte man die Leerstellen des Films dabei nicht.