"La nouvelle vague arrive!" ("Hier kommt die neue Welle!") titelte das Wochenmagazin L’Express im Oktober 1957 unter dem hübschen Gesicht einer lächelnden jungen Frau. Gemeint war damit nicht die filmische Nouvelle Vague, die erst ein gutes Jahr später Furore machen sollte, sondern ein gesellschaftliches Phänomen der 1950er-Jahre, das in der Ausgabe porträtiert wird: die junge Generation der zwischen 1927 und 1939 Geborenen, in der die Frauen eine starke und aktive Rolle einnehmen.

Michel Subor und Anna Karina in "Der kleine Soldat" (© ddp images)

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In Abgrenzung zur kriegsversehrten Elterngeneration zeichnen sich die Jungen durch politisches Desinteresse aus, das auch typisch für die filmische Nouvelle Vague sein sollte. Unter dem Einfluss neuer reichweitenstarker Kulturformate wie Fernsehen, Publikumszeitschrift, Taschenbuch und Vinyl-Schallplatte drängen sie nach Freiheit und Selbstverwirklichung, suchen die romantische Liebe und leben eine freizügigere Sexualmoral, auch wenn Verhütungsmittel in Frankreich erst 1967 legalisiert werden sollten. Bezüglich der Geschlechterrollen bleiben die jungen Männer unabhängig ihrer sozialen Herkunft überwiegend konservativen Vorstellungen verhaftet. Die jungen Frauen jedoch sehen sich in einer Epoche der weiblichen Emanzipation und streben nach gesellschaftlicher Gleichstellung. Die überkommenen Geschlechterbilder des traditionellen Kinos taugen ihnen nicht zur Identifikation. Als Vorbilder moralischer Selbstbestimmung dienen stattdessen Françoise Sagan und Brigitte Bardot, die ersten weiblichen Stars der Populärkultur, deren Siegeszug in den 1950er-Jahren begann.

"Mädchen, wie wir sie lieben"

Das Freiheitsversprechen dieser Generation findet in den Filmen der Nouvelle Vague ihren ästhetischen Ausdruck. Barfuß und mit fliegendem Rock radelt die junge Bernadette Lafont am Anfang von François Truffauts erstem Kurzfilm "Die Unverschämten" ("Les mistons" , 1958) durch die sonnenbeschienenen Straßen von Zum Inhalt: Nîmes; die Kamera feiert in einer langen Zum Inhalt: Fahrtaufnahme die Unbeschwertheit der Jugend. In Jean-Luc Godards Debütfilm ("À bout de souffle" , 1960) schlendert Jean Seberg mit Garçon-Haarschnitt neben Jean-Paul Belmondo nonchalant über die Champs-Élysées und wird zur modernen Stil-Ikone.

Jean Seberg und Jean-Paul Belmondo in "Außer Atem" (© Pictures Alliance/Collection Christophel)

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Die Frauenfiguren der Nouvelle Vague bestechen auch heute noch durch jugendlichen Charme und erfrischende Sinnlichkeit. Der Zum Inhalt: dokumentarische Stil der Filme, die oft mit der Handkamera und Zum Inhalt: ohne künstliche Beleuchtung gedreht sind, lässt sie authentisch wirken. Zahlreiche Zum Inhalt: Großaufnahmen fangen die natürliche Schönheit der jungen, kaum geschminkten Gesichter ein, in denen eine subtile Erotik zum Ausdruck kommt.

Im Gegensatz zum etablierten Kino mit seinen künstlich wirkenden Schauspielerinnen zeigen die jungen männlichen Regisseure "Mädchen, wie wir sie lieben" (Godard). Bei Godard ist das durchaus wörtlich gemeint: In seinen ersten Filmen nach "Außer Atem" lässt er seine Ehefrau Anna Karina die weiblichen Hauptrollen spielen. In "Der kleine Soldat" ("Le petit soldat" , 1960) umkreist die Kamera wie in verliebter Faszination die junge Frau. In "Die Geschichte der Nana S." ("Vivre sa vie" , 1962) halten geradezu fetischistische Großaufnahmen ihr Gesicht fest. Dieser bewundernde Blick des Künstlers auf sein Modell steht in der Tradition der malerischen Muse, eine Beziehung, die etwa Pablo Picasso mit Dora Maar vorlebte.

Anna Karina in "Die Geschichte der Nana S." (ddp/Everett Collection)

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Liebende Heldinnen

Der Blick auf die Frauen, die im Schnitt zehn Jahre jünger sind als die Darstellerinnen des etablierten Populärkinos, bleibt fast ausnahmslos männlich. Mithilfe der Kamera lenken die Filme die Identifikation des Publikums auf den männlichen Protagonisten als Alter Ego des Regisseurs. Dennoch zeigt sich in den Filmen der Nouvelle Vague ein Gespür für die sich ändernden Geschlechterrollen. Die große Mehrheit der Filme handelt "die Liebe und die Beziehung zwischen Männern und Frauen" (Truffaut) mit ihren neuen Spielregeln aus.

Auch den weiblichen Figuren wird ein freizügigeres Liebesleben mit wechselnden Partnern zugestanden. Das ist revolutionär, denn im klassischen Kino waren amouröse Abenteuer den männlichen Protagonisten vorbehalten – oder allenfalls Femmes fatales, die dafür freilich büßen mussten. In Godards Zum Filmarchiv: "Eine Frau ist eine Frau" ("Une femme est une femme" , 1961) zwingt Angela (Anna Karina) ihren Partner (Jean-Claude Brialy) durch die Androhung eines Seitensprungs mit dessen besten Freund (Jean-Paul Belmondo) zu einem gemeinsamen Kind. In Jean-Pierre Mockys "Ehe französisch" ("Un couple" , 1960) und Louis Malles "Die Liebenden" ("Les Amants" , 1958) verlassen Anne (Juliette Mayniel) und Jeanne (Jeanne Moreau) ihre Männer und die Sicherheit der gutbürgerlichen Ehe für einen Liebhaber. Bezeichnenderweise finden die Frauen hier ihre Freiheit nicht etwa in beruflicher Selbstverwirklichung, sondern in der Liebe zu einem fremden Mann. Anders ist weibliche Emanzipation im Kino jener Zeit offensichtlich noch nicht vorstellbar. In der Gesellschaft hingegen gewinnt sie zusehends an Dynamik: Tatsächlich sind in den 1950ern bereits über 40 Prozent der Französinnen berufstätig, streben zunehmend nach qualifizierten Positionen und überholen im Abiturjahrgang 1964 erstmals zahlenmäßig ihre männlichen Kollegen.

Jean-Marc Bory und Jeanne Moreau in "Die Liebenden" (© ddp images)

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Viele Filme der Nouvelle Vague vermitteln, dass sich der Mann vor der liebenden Frau zu hüten hat. In Claude Chabrols ersten Filmen "Die Enttäuschten" ("Le beau Serge" , 1958) und "Schrei, wenn du kannst" ("Les Cousins" , 1959) bleiben die jeweils von Gérard Blain gespielten Protagonisten an der Liebe der Frauen haften und verraten die eigenen Ambitionen. Und selbst wenn sie es noch so gut mit ihrem Mann meinen, wie Léna (Marie Dubois) und Thérésa (Nicole Berger) in Truffauts "Schießen Sie auf den Pianisten" ("Tirez sur le pianiste" , 1960) mit Charlie/Édouard (Charles Aznavour), treten die Frauen ungewollt das fatale Schicksal los, das über die männlichen Helden hereinbricht. So steuert auch Catherine (Jeanne Moreau) in Truffauts "Jules und Jim" ("Jules et Jim" , 1962) die beiden Männer, mit denen sie in einer offenen Beziehung "die Liebe neu erfindet", in eine Tragödie. In Umkehrung des herkömmlichen Abhängigkeitsverhältnisses der Geschlechter sehen sich Jules und Jim den unvorhersehbaren Launen der idealisierten Frau ausgeliefert. Trotz der Zwiespältigkeit sollte Jeanne Moreau mit ihrer Figur maßgeblich das Bild moderner Weiblichkeit prägen: leidenschaftlich, stark und intelligent.

Jeanne Moreau, Henri Serre und Oskar Werner in "Jules und Jim" (© ddp images)

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Der Platz hinter der Kamera bleibt männlich

Das Frauenbild der Nouvelle Vague bleibt letztlich ambivalent in seiner Mischung aus Modernität und Archaismus, aus echtem Interesse an weiblicher Emanzipation und männlicher Fantasievorstellung. Die Filme teilen mit ihren fast immer männlichen Helden eine zumindest unbewusste Verunsicherung gegenüber den neuen Geschlechterrollen. Hinter der Kamera bleiben die Männer weitgehend unter sich. Eine dezidiert weibliche Perspektive auf die neuen Frauen inszenieren lediglich Paula Delsol mit ihrem fast unsichtbar gebliebenen Debütfilm "Treibgut" ("La Dérive" , 1962), sowie Agnès Varda mit Zum Filmarchiv: "Cléo – Mittwoch zwischen 5 und 7" ("Cléo de 5 à 7" , 1961), die einzigen beiden Regiefrauen dieser Generation.

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