"Ich habe neulich einen Film von Helke Sander gesehen. Die Frauen darin waren aufgeklärter, weniger unterdrückt und irgendwie nicht so blutleer wie wir." Mit diesem selbstironischen Kommentar, den die titelgebende Protagonistin spricht, stellt Zum Filmarchiv: "Das melancholische Mädchen" von Susanne Heinrich eine direkte Verbindung zur Generation der westdeutschen Filmemacherinnen der 1970er-Jahre her, insbesondere zu der Künstlerin und Aktivistin Helke Sander. Heinrich, wie Sander an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin ausgebildet, zeigt sich in ihrem Debütfilm beeinflusst vom feministischen Filmschaffen in der BRD. Dieser Einfluss macht sich durch ein Formbewusstsein für das Blickregime im Kino sowie die Abbildung feministischer Diskurse bemerkbar – weniger jedoch in der aktivistischen Grundhaltung, die für die Generation um Sander charakteristisch ist.

Das melancholische Mädchen, Szene (© Edition Salzgeber)

Feministische Film-Bewegung mit internationaler Reichweite

Helke Sander spielte eine Schlüsselrolle unter den Filmemacherinnen der Frauenbewegung. Mitte der 1960er-Jahre gehörte sie zur ersten Generation von Frauen, die an westdeutschen Filmhochschulen – vor allem in West-Berlin und in Ulm – für den Studiengang Zum Inhalt: Regie angenommen wurden. Gemeinsam mit der Regisseurin Claudia von Alemann organisierte sie 1973 in Berlin das "Internationale Frauenfilmseminar", bei dem 45 Filme aus sieben Ländern vorgeführt wurden. Es ist das erste Frauenfilmfestival Deutschlands. Im Nachgang dieser Veranstaltung gründete Sander das Magazin Frauen und Film, das sich sowohl einer feministischen Filmkritik als auch der Entwicklung einer Frauenfilmpolitik verschrieb. In Frauen und Film erschien 1975 auch der Artikel filmemacherinnen in st. vincent von Sander und Alemann über das UNESCO Colloqium "Women in Cinema". Filmemacherinnen, Kritikerinnen und Schauspielerinnen aus 15 Ländern erarbeiteten dort gemeinsam eine Liste von Statuten, in denen es sowohl um einen gleichberechtigten Zugang zu Produktionsmitteln als auch die Dekonstruktion von Geschlechterstereotypen im Film geht.

"ziel dieser assoziation ist es, alle von frauen gemachten filme zu unterstützen, zu fördern und zu verbreiten, die die weiblichen stereotypen analysieren und ein neues und authentisches bild der frau schaffen, indem sie geschlechterdiskriminierung und sexistische haltungen in allen medien entlarven" (artikel 4 der "Women in Cinema"-Statuten, Kleinschreibung im Original). An solchen Positionen wird deutlich, wie eng für die damalige Generation von Filmemacherinnen politische Gleichheitskämpfe mit filmischen Inhalten verbunden waren. Im Unterschied zu heutigen Initiativen wie Pro Quote Film, die sich stark auf die Strukturen hinter den Kameras und die Filmbranche konzentrieren, widmeten sich die Regisseurinnen um 1970 mit Werken wie "9 Leben hat die Katze" (Ula Stöckl, BRD 1968), "Gleicher Lohn für Mann und Frau" (Barbara Kasper, BRD 1972) oder "Das schwache Geschlecht wird stark" (Claudia Schilinski, BRD 1973) feministischen Themen von breiterer gesellschaftlicher Relevanz. Einige Regisseurinnen waren neben der künstlerischen Tätigkeit in der Frauenbewegung aktiv. So gehörte Helke Sander 1968 zu den Gründerinnen des "Aktionsrats zur Befreiung der Frau", der häufig als Ausgangspunkt der neuen Welle der Frauenbewegung in der BRD gilt.

Filme gegen den männlichen Blick

Die Emanzipationsbewegung fand auch auf ästhetischer Ebene statt, auf der ebenfalls patriarchale Strukturen aufgebrochen werden sollten. Elfi Mikesch ("Ich denke oft an Hawaii" , BRD 1978) erklärt den damaligen Anspruch im Interview Zum Inhalt: "Wir wollten den Film neu erfinden" so: "Es hieß, nicht mehr denselben Traditionen zu folgen, sich nicht anzupassen, sondern Experimente zu wagen, andere Formen zu finden. Wichtig: auch Frauenbilder neu zu denken." So widmet sich Helke Sander bereits in ihrem ersten Zum Inhalt: Kurzfilm "Subjektitüde" (BRD 1966) dem sexualisierenden Blickwechsel an einer Straßenkreuzung und thematisiert im Zum Inhalt: Voiceover die unterschiedlichen Perspektiven von Frauen und Männern. Valie Export verzichtete mit ihrem "Tapp- und Tastkino" (1968) gleich ganz auf eine Projektion: In dieser Performance-Aktion auf dem Stachus in München konnten "Zuschauer/-innen" die Brüste der Künstlerin in einem Karton ertasten. Damit verwies Export auf den Objektstatus der Frau im Kino.

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"Das melancholische Mädchen" von Susanne Heinrich fügt sich insofern in diese ästhetische Tradition, als sich der Film einer klassischen Narration verweigert. Auf inhaltlicher Ebene verhandelt die Regisseurin feministische Themen, die für ihre Gegenwart von Relevanz sind: den Diskurs um weibliche Identitätspolitik, Sexualität sowie die Kommerzialisierung feministischer Positionen. Wie ihre Vorgängerinnen der 1970er-Jahre dekonstruiert Heinrich auf stilistischer Ebene den männlichen Blick auf weibliche Körper – allerdings nicht im Sinne einer Umkehr (wie in "Subjektitüde" ), sondern in der Rationalisierung von Begehren: Die nackten Körper in "Das melancholische Mädchen" , männliche wie weibliche, sind nicht als Objekte sexueller Begierde inszeniert, sondern wirken ebenso steril wie die Sexualität, die sie performen.

Vom Kübelkind zum melancholischen Mädchen

Besonders dramaturgisch erinnert "Das melancholische Mädchen" an ein weiteres frühes Filmfrauenwerk: "Die Geschichten vom Kübelkind" (BRD 1971) von Ula Stöckl und Edgar Reitz. In den jenseits etablierter Förderstrukturen entstandenen Kurzfilmen – 25 lose zusammenhängende Episoden (Glossar: Zum Inhalt: Episodenfilm) – erzählen Stöckl und Reitz aus dem Leben einer unkonventionellen Hauptfigur. Das sogenannte Kübelkind ist wie Heinrichs Heldin obdachlos und wandert auf der Suche nach einem geeigneten Heim durch verschiedene gesellschaftliche Kontexte, mit denen es kollidiert, weil ihm die vorherrschenden Normen und Werte unbekannt sind. Wo das anarchische Kübelkind trotzig rebelliert, referiert das melancholische Mädchen hingegen unbewegt und in Metadiskursen über vertraute gesellschaftliche Strukturen.

Heinrichs Heldin unterscheidet sich von ihren Vorgängerinnen dadurch, dass sie nicht aktivistisch handelt, sondern sich durch Reflektion mit dem Sexismus in der Gesellschaft auseinandersetzt. Wo Edda, die von Helke Sander selbst gespielte Hauptfigur in ihrem bekanntesten Film "Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers" (BRD 1978), als alleinerziehende Mutter und freiberufliche Fotografin ihren durch patriarchale Ausbeutungsstrukturen geprägten Alltag bewältigen muss, bleibt das melancholische Mädchen in erster Linie eine suchende Beobachterin in hochgradig stilisierten Settings (Glossar: Zum Inhalt: Production Design/Ausstattung). Im Vergleich mit Sanders realistisch-psychologischer Identifikationsfigur: ein reines Kunstwesen.

Blick zurück auf die Frauenbewegung der 1970er-Jahre

Hierin liegt vielleicht der größte Unterschied: Wo sich Stöckls und Sanders Heldinnen an greifbaren Strukturen abarbeiten, dreht sich der Feminismus in Heinrichs Film weniger um eine gesellschaftliche Neuordnung als um die Freiheit des Individuums. "Nicht so blutleer wie wir": Vielleicht kann der Blick zurück, den "Das melancholische Mädchen" auf die Feministinnen der 1970er-Jahre wirft, als Sehnsucht nach der damaligen energiegeladenen Aufbruchsstimmung gelesen werden. Eine Aufbruchsstimmung, die die Protagonistin in Heinrichs Film nicht teilen kann mit dem Wissen, dass heute, knapp 50 Jahre später, zwar individuelle Freiheiten erkämpft, die ersehnten strukturellen Umbrüche aber noch nicht erreicht sind.

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