Heide Schlüpmann ist emeritierte Professorin für Filmwissenschaft. 1999 gründete sie mit Karola Gramann die Kinothek Asta Nielsen, die sich der Geschichte des weiblichen Filmschaffens und seiner Vermittlung widmet. 2022 erschien ihr Buch "Raumgeben – der Film Kino" über die Beziehung des Mediums Film mit seinem Aufführungsort. Als Feministin und langjährige Mitarbeiterin des filmtheoretischen Magazins Frauen und Film ist Heide Schlüpmann Spezialistin für die frühen Filmpionierinnen.

Wer hat eigentlich den ersten Film gemacht? Und ist das überhaupt eine relevante Frage?

Da ist eine merkwürdige Rivalität in der Frage, die ich problematisch finde. Das Kino ist um 1900 durch Mitwirkung mehrerer Personen entstanden. Georges Méliès, die Lumière-Brüder und Alice Guy, die am Anfang der Filmgeschichte bekannt wurden, sind gleichzeitig dagewesen.

Was würden Sie sagen: Welchen Stellenwert haben Frauen in dieser frühen Phase des Kinos?

Das Kino als ein neues Feld eröffnete Frauen Chancen. Es war noch nichts von Männern besetzt. Als dann der Film kommerziell Erfolg hatte, sich die Filmproduktion als lukrativ erwies und sich auch Künstler mit Filmen profilierten – wie durch die expressionistischen Filme der 1920er-Jahre –, da hatten es die Frauen wieder schwerer.

Gibt es unter den Filmpionierinnen, abgesehen von Alice Guy, Künstlerinnen, die Ihnen persönlich am Herzen liegen?

Als Mitarbeiterin der Kinothek Asta Nielsen ist Asta Nielsen für mich auch eine Pionierin, eine Schauspielerin, die aber auch großen Einfluss auf die Entwicklung des Erzählfilms genommen hat. Mit ihr entstand das Starsystem, etablierte sich der Langfilm. Sie entfaltete eine Körpersprache, die das Drama von seiner Theatergeschichte emanzipierte. Auch Lois Weber, die in den USA bei Alice Guy angefangen hat, ist eine Pionierin, weil sie in den 1910er- und frühen 1920er-Jahren eine sehr prominente Rolle gespielt hat. Sie war sehr erfolgreich darin, den Film als Medium einzusetzen, um dem Publikum soziale Verhältnisse bewusst zu machen, gerade auch was die Situation der Frauen angeht.

Sie erwähnten eben die Kinothek Asta Nielsen, die Sie mitbegründet haben. Was war und ist die Motivation für Ihre Arbeit?

Die Kinothek ist eine Einrichtung, mit der wir intensiv versuchen, Filme von Frauen ins Kino zu bekommen und eine Perspektive auf die Frauen in der Filmgeschichte zu vergegenwärtigen. Mir ist die Kinoarbeit sehr wichtig, um sozusagen ganz praktisch Blicke zu öffnen für die Geschlechterverhältnisse in der Filmgeschichte, aber eben auch für die Wahrnehmung von lange völlig ignorierten Arbeiten der Frauen in der Geschichte und der Gegenwart.

Warum ist es wichtig, beim Blick auf die Filmgeschichte auch bewusst Frauen mit einzuschließen?

Das ist wichtig, weil sonst eine Einseitigkeit der Weltsicht entsteht. Zu dieser Weltsicht gehört einerseits, was in Filmen sichtbar ist – Frauen haben andere Inhalte, andere Themen. Beispielsweise stießen in den 1970er-Jahren Filmmacherinnen wie Jutta Brückner oder Helke Sander mit Themen wie Menstruation, Abtreibung, Geburt bei den Fernsehsendern auf Widerstand. Es geht aber auch darum, dass mit der Verdrängung des Anteils von Frauen an der Filmgeschichte der Eindruck entsteht, die Filme von Männern, die bildeten das ganze Kino, das Kino überhaupt.

Wie können wir denn die frühen Filme – allgemein, aber eben auch die von Frauen – einem Kinder- und Jugendpublikum zugänglich machen?

Ich bin der Ansicht, dass das frühe Kino, gerade auch in seiner scheinbaren Einfachheit, sehr eingängig sein kann für ein Kinderpublikum – nicht nur der Zum Inhalt: Slapstick und die Komik. Es sind ja auch Zum Inhalt: Kurzfilme. Der Blick der Jugendlichen ist sicherlich schon etwas "verstellt" durch Sehgewohnheiten, die mit den zeitgenössischen Medien zusammenhängen. Sie müssen erst einmal offen werden für diese frühen Filme, die eine ganz andere Gestalt haben. Gerade Filme vom Beginn des Jahrhunderts kommen einem auf dem kleinen Bildschirm gar nicht nahe. Wenn man sie aber im Kino sieht – vieles ist Zum Inhalt: dokumentarisch, so hat der Film ja angefangen – ist das wie ein Blick in eine andere, vergangene Welt. Und die Inhalte der Spielfilme sind auch für diese Altersgruppe interessant – Liebesgeschichten oder Abenteuer zum Beispiel. "Engelein" mit Asta Nielsen etwa, in dem sie gängige Klischees von Ehe und Liebe bricht, "Ich möchte kein Mann sein" von Ernst Lubitsch macht etwas Ähnliches.

Wie sehen Sie den heutigen Status Quo von Frauen in der Filmindustrie – auch im Vergleich zu den Pionierinnen?

Frauen spielen heute immer noch eine ziemlich marginale Rolle. Statistisch kann man festhalten, dass sie über den ersten Film schwer hinauskommen und mit geringeren Budgets arbeiten müssen als Männer. Ein weiterer Aspekt wäre, inwieweit es für sie möglich ist, überhaupt noch etwas Neues in die Filmlandschaft einzubringen, etwas, das Sichtweisen aufbricht, in dem wir Unerwartetem begegnen. Im Aufbruch der Filmemacherinnen der 1970er-Jahre war es genau das, was beflügelt hat. Und dieser Elan, glaube ich, wird heute nicht mehr unterstützt oder gar unmöglich gemacht.

Also haben es Filmemacherinnen heute schwerer als die Pionierinnen der ersten Stunde?

Meines Erachtens stehen sie schlechter da. Es geht ja nicht nur darum, dass jetzt vielleicht mehr Frauen als Regisseurin arbeiten können. Es geht auch darum, welche Möglichkeiten sie haben, ihre eigenen Ideen zu verwirklichen. Man braucht Mut, sich gegen den Zwang, der eben vom Geld und von einem medialen Konsens ausgeht, aufzulehnen. Dabei hilft natürlich eine Solidarisierung. Insofern ist auch die Initiative Pro Quote Film nicht verkehrt, die eine Frauenquote im deutschen Film fordert. Aber sie zielt eher darauf ab, dass man das jetzige Feld mit besetzt und da gibt es große Konkurrenz. Dieses Feld aufzubrechen, würde einen offenen Raum schaffen.

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